Archivtagung auf Burg Ludwigstein vom 21.–23. Oktober 2016 (Programm)
War die Emanzipation des Menschengeschlechts im 18. Jahrhundert an die Selbst-Setzung der Vernunft und die ästhetische Erziehung innerhalb dieses Vernunftrahmens geknüpft, wird sie im 19. Jahrhundert zunehmend körperlich gedacht: Die Erkenntnisse der ins Biologische gewendeten Wissenschaften vom Menschen – Biologie, Medizin, Psychiatrie, beginnende Sexualwissenschaft – durchdringen das Alltags-wissen und kanalisieren die expandierenden Ängste um den biologisch anfälligen Körper. Die Fortschritte der Lebenswissenschaften werden unterlaufen von den ihnen zugeschriebenen Bedrohungen: Herunterkommen aus selbstverschuldeter oder ererbter Nervenschwäche bzw. rassische Degeneration – es droht neben dem eigenen Verfall die nachhaltig wirksame nervöse Schwächung der Nachkommenschaft wie die Verunreinigung des „Volkskörpers“; denn Volk wird als organische Größe imaginiert. Die Sorge um Degenerierung ist allenthalben präsent: Um den erreichten Grad der Zivilisation und die Selbstzuschreibung der obersten Position in der Hierarchie der Rassen halten und um überleben zu können, muss man sich rüsten; es geht darum, stark und gesund sowie rassisch rein zu bleiben. Also müssen diese Werte nachhaltig geschützt und verteidigt werden, eine überaus schwierige Aufgabe, denn die Bedingungen der modernen Lebensweise (Verstädterung, Industrialisierung, Technisierung, koloniale Globalisierung, Reizüberflutung) haben – so erleben es zumindest die Zeitgenossen – sich so gestaltet, dass sie allgemeiner Schwächung bis hin zum individuell-familiären wie gesellschaftlich-kollektiven Verfall zuzuarbeiten scheinen.
Die Fotografie ist der Serie von Julius Groß „Winterlager in der Sächsischen Schweiz in Hohnstein, 1924“ entnommen (AdJb, F 1, 116/01).
Die Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung 2016 versucht die Jugendbewegung und die mit ihr in Verbindung stehende Lebensreform auf der Folie körperlich-biologischer, sozialdarwinistischer, sexual- und rassetheoretischer Argumentationsweisen zu bedenken. Dabei gilt es, Konzepte von Verbesserung, Vermeidung von Gefährdung, Verhinderung von Gefährdendem, kurz die breite Palette von Auslese, Ausschluss, Ausmerze in den Blick zu nehmen. Eine Betrachtung der Vorstellungen
– von Weiblichkeit und Männlichkeit,
– von rassischer Reinheit,
– von den Gestaltungsmöglichkeiten des individuellen wie kollektiven Sexuallebens,
– vom Umgang mit dem Körper und den Lebensfunktionen,
– von Modellen vergangener, wieder- bzw. neu herzustellender sozialer Organisationsformen
unter dem Aspekt von Biopolitik verspricht einen Zugang, der es erlaubt, die Jugendbewegung in das diskursive Umfeld gesellschaftlicher Beunruhigung und der Suche nach Antworten auf diese Beunruhigungen im 1/3 des 20. Jahrhunderts zu stellen und die jugendbewegten Bestrebungen – in der gegebenen Ambivalenz – nachvollzieh- und verstehbar zu machen.
Für den wissenschaftlichen Beirat des Archivs Prof. Dr. Karl Braun
in Zusammenarbeit mit John Khairi-Taraki M.A. und Felix Linzner M.A. sowie Dr. Susanne Rappe-Weber, Archiv der deutschen Jugendbewegung.