Die Neue Ruhr Zeitung (NRZ) bittet regelmäßig interessante Zeitgenossen regelmäßig zum Gespräch. Die Themen dieser Interviews wechseln, zum Tag der Archive führte Sebastian Sasse unter dem Titel "Der Hüter des Erbes" ein Gespräch mit dem Leiter des Stadtarchivs Mülheim an der Ruhr, Dr. Kai Rawe.
„Jede Gegenwart ist gewordene Gegenwart“, sagt Kai Rawe. Mit dieser Frage wird der 39-jährige promovierte Historiker jeden Tag konfrontiert. Er verwaltet das „Gedächtnis der Stadt“. Obwohl „verwalten“ – das klingt ihm vermutlich zu sehr nach Amtsstube, nach staubigen Akten, nach Ärmelschoner. „Natürlich haben wir auch die Aufgabe, Verwaltungsakten aufzubewahren. Wir sind aber mehr als eine Registratur“, betont er. „Mir ist wichtig, dass unsere Türen für den Bürger offen stehen. Wir sind eine kulturelle Einrichtung in dieser Stadt, ein offenes Haus. Genauso wie das Theater oder der Ringlokschuppen.“
Ein Blick in den Besucherraum zeigt, dass dieser Anspruch auch eingelöst wird. Die Tische sind besetzt. Ein älterer Herr sitzt über einem Zeitungsband. Ein anderer blättert in einem Karteikasten und macht sich eifrig Notizen. „Ich freue mich über den Schüler, der für seine Facharbeit recherchiert genauso, wie über den Professor“, erklärt Rawe. „Besonders beliebt sind wir bei den Familienforschern. Viele finden erst in der Rente zu diesem Hobby. Dann betreiben sie es aber auch intensiv.“
Rawe kann diese Leidenschaft verstehen. Wo kommen wir her? Wer diese Frage stellt, fragt meistens gleichzeitig auch: Wo gehen wir hin? Sehr menschliche Fragen. Ob alte Urkunden, Akten oder ein Programmheft von der 100-Jahrfeier der Stadt – alle dieses Dokumente sind Zeugnisse menschlichen Lebens. Und damit so einmalig, wie eben auch jeder Mensch. Rawe: „Wenn unsere Quellen weg sind, dann sind sie weg. Man kann keine neuen Quellen kaufen. Das ist ja auch das Tragische an dem Unglück in Köln vor einem Jahr. Vieles ist unwiederbringlich verloren.“
Der Archivar ist sich der Bedeutung des Schatzes bewusst, den er hütet. „Ich habe deswegen auch kein besonderes Lieblingsstück. Natürlich sind wir stolz, dass wir relativ viele mittelalterliche Urkunden im Besitz haben. Ich finde aber auch eine Postkarte aus dem 19. Jahrhundert faszinierend. Es ist einfach der Reiz des Authentischen. Man steigt in vergangene Lebenswelten ein.“
Geschichte ist spannend, Geschichte ist unterhaltsam. Eine Erfahrung, die nicht jeder im Schulunterricht macht. Deswegen lädt das Archiv gerne Klassen ein, damit sie so vor Ort mit den Überresten aus der Vergangenheit ihrer Stadt konfrontiert werden. Sie können lesen, aber auch riechen, anfassen, fühlen – Geschichte wird sinnlich erfahrbar. Und damit auch lehrreich. „Das ist viel konkreter, als eine abgedruckte Quelle im Schulbuch. Die Beziehung ist gleich da. Die Schüler merken zum Beispiel: Da wird über Ereignisse in einer Straße berichtet, die es heute noch gibt. Das hat tatsächlich in unserer Stadt stattgefunden.“ Ein nachhaltiger Lerneffekt, ist Rawe sich sicher.
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Quelle: Sebastian Sasse, NRZ, 6.3.2010