Die VolkswagenStiftung bewilligt rund 278.000 Euro für ein außergewöhnliches Projekt zur Aufarbeitung und Gesamtdarstellung der deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945 Juden in Deutschland – ein Thema, das in der Betrachtung zumeist auf den Holocaust beschränkt bleibt oder in noch weiter in die Vergangenheit reichender Perspektive interessiert. Über die Nachkriegsgeschichte der Juden in Deutschland hingegen ist wenig bekannt; die Jahreszahl 1945 markiert für viele das vermeintliche Ende des Judentums in diesem Land. Und doch hat das jüdische Leben hierzulande viele Facetten: Wussten Sie, dass die hiesige jüdische Gemeinde die drittgrößte Europas ist? Derzeit gehören dem Zentralrat der Juden 102 einzelne Gemeinden mit rund 105.000 Mitgliedern an, doch man schätzt, dass wohl rund 200.000 Juden in Deutschland leben. Und deren Zahl wächst stetig. Dabei stellt – etwa mit Blick auf Fragen der Integration – vor allem die Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gerade für die Gemeinden selbst eine aktuelle Herausforderung dar.
Dieser stark vernachlässigten zeithistorischen Spur nachgehen und ein umfassendes Werk zur Geschichte der Juden in Deutschland seit 1945 erarbeiten: Das will Professor Dr. Michael Brenner von der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München, der zugleich Vorsitzender der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts ist. Mit Hilfe namhafter jüdischer und nicht-jüdischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler soll eine Gesamtdarstellung entstehen, die alle Facetten jüdischen Lebens in der Bundesrepublik und in der DDR behandelt. Die VolkswagenStiftung unterstützt die Forscher bei ihrer Arbeit mit rund 278.000 Euro. Auf diese Weise soll ein fünfter Band zur \“Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit\“ entstehen; an der Finanzierung der Arbeit an den ersten vier Bänden dieses Werkes hat sich die Stiftung zwischen 1990 und 1996 ebenfalls beteiligt.
Die Wissenschaftler wollen sowohl die inneren Beziehungen dieser Gruppe als auch die Beziehungen der Juden zu ihrer \“Umwelt\“ untersuchen. Wie etwa sieht das Verhältnis zur deutschen, nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft aus? Wie gestalten sich die Verbindungen zu den Juden außerhalb Deutschlands? Und wie bewältigen die jüdischen Gemeinden den großen Zustrom an Glaubensbrüdern und -schwestern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion? Seit 1989 kamen 190.000 von ihnen als so genannte jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, von denen bislang 80.000 in die jüdischen Gemeinden Deutschlands integriert werden konnten. Die jüdische Gemeinde zu Berlin war zum Beispiel wegen der Zuwanderung in den 1990er Jahren weltweit die am schnellsten wachsende ihrer Art.
Fünf Fragestellungen konturieren die gesamte Untersuchung:
1. Wie stellt sich die demografische Struktur der Juden in Deutschland nach 1945 dar, und wie wirken sich die jüdischen Migrationsströme, die teilweise aus Deutschland herein- und herausführten, aus?
2. Welche Sozialstruktur und Geschlechterbeziehungen lassen sich im Vergleich zur deutschen, nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft ausmachen?
3. Wie haben sich politische und kulturelle Beteiligungsprozesse der Juden in Deutschland verändert?
4. Welche Rolle spielen Religion und Ethnizität für individuelle und kollektive jüdische Identitäten?
5. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen den Juden in Deutschland und der sich entwickelnden Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik unter Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses zur DDR beschreiben?
Das Wissenschaftlerteam wird hierzu die Bestände verschiedener Archive in Deutschland – darunter das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland – sowie in Großbritannien, den USA und in Israel in ihre Analysen einbeziehen. Neben der archivalischen Überlieferung ist eine Auswertung von Medien (Zeitungen, Hörfunk, Fernsehen), aber auch von Literatur und Theater geplant.
Kontakt:
VolkswagenStiftung
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Christian Jung
Tel.: 0511 / 8381 – 380
jung@volkswagenstiftung.de
Universität München
Historisches Seminar
Prof. Dr. Michael Brenner
Tel.: 089 / 2180 – 5570
Michael.Brenner@lrz.uni-muenchen.de
Quelle: VolkswagenStiftung, Uni-Protokolle, 16.3.2007