Nachdem der Vatikan in einer kurzen Pressemitteilung am 30. Juni 2006 angekündigt hatte, dass auf persönlichen Wunsch von Papst Benedikt XVI. alle Akten freigegeben werden, die sich auf das Pontifikat Pius XI. (6. Februar 1922 bis 10. Februar 1939) beziehen, haben Wissenschaftler aus aller Welt nun zu Forschungszwecken die Möglichkeit, seit dem 18. September 2006 (nach Beendigung der Sommerferien in den Vatikanischen Archiven) Einblick in die schwierige Phase der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen zu nehmen. Hierbei handelt es sich vor allem um Unterlagen, die im vatikanischen Geheimarchiv und im Archiv der zweiten Sektion des Päpstlichen Staatssekretariats für auswärtige Beziehungen aufbewahrt werden. In die Regierungszeit von Papst Pius XI. fallen vor allem die Auseinandersetzungen mit Mussolini in Italien, mit Hitler in Deutschland und mit Stalin in der Sowjetunion. Dazu gehören aber auch der Spanische Bürgerkrieg (1936-1939) und die Diktatur Francos (ab 1938), die Sudetenfrage (Angliederung des böhmischen Grenzgebietes an das Deutsche Reich und die Umsiedlung der dort lebenden Bevölkerung im Jahr 1938) sowie der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich (1938).
Die Deutschland betreffenden Akten aus der Regierungszeit Pius XI. waren auf internationalen Druck hin, bereits im Jahre 2003 – noch vor Ablauf der üblichen Sperrfrist von 70 Jahren – freigegeben worden. Akten der Nuntiaturen in Berlin und München sowie des Staatssekretariates konnten von Wissenschaftlern eingesehen werden. Damit trat der Vatikan Vermutungen entgegen, er halte wichtige Dokumente aus der NS-Zeit zurück.
Bei ihren Nachforschungen im Vatikanischen Archiv sind jetzt Wissenschaftler der Universität Münster – einer von ihnen ist der renommierte Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf – auf handschriftliche Notizen des damaligen Kardinalstaatssekretärs Eugenio Pacelli gestoßen, der außerdem von 1917 bis 1929 Nuntius in Deutschland war und 1939 als Pius XII die Nachfolge von Papst Pius XI. antrat. Die Notizen des Kardinalstaatssekretärs enthalten Informationen über die täglichen Audienzen bei Pius XI. Da die Zettel jedoch nur sehr knappe Hinweise mit Nummern von einzelnen Berichten sowie die vom Papst dazu getroffenen Entscheidungen enthalten, wird die Auswertung vermutlich noch viele Jahre dauern. Des weiteren machen die zur Einsicht freigegebenen Akten deutlich, dass die Kurie über weltpolitische Ereignisse bestens unterrichtet war. Äußerst wichtig und interessant sind für die Münsteraner Forscher auch die etwa 4 500 Nuntiaturberichte Pacellis im Hinblick darauf, wie er die Informationen aus Deutschland in seine Tätigkeit im Vatikan mit einbezogen hat. Deshalb planen die Wissenschaftler aus Münster sogar eine Internetedition dieser Berichte.
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Quelle: Kölnische Rundschau, 10.10.2006; Kleine Zeitung Online, 30.6.2006; ZENIT – Die Welt von Rom aus gesehen, 30.6.2006; Kath.net., 30.6.2006