Zwei lange verloren geglaubte Quellen, das Tagebuch und die Kriegsbriefe des kaiserlichen Generaladjutanten Hans Georg von Plessen (1841-1929) sowie die Kriegsbriefe und Tagebuchfragmente des Chefs des Kaiserlichen Militärkabinetts, Moritz Freiherr von Lyncker (1853-1932), geben nun näheren Aufschluss über die Rolle des deutschen Kaisers im Ersten Weltkrieg und den Alltag seiner engsten Umgebung.
Die Generalobersten Plessen und Lyncker gehörten während des Ersten Weltkriegs zu dieser engsten Umgebung des Kaisers, zusammen mit dem Chef des Zivilkabinetts, Rudolf von Valentini, und Marinekabinettschef Admiral Alexander von Müller. Die Aufzeichnungen Valentinis sind ediert, ebenso das Tagebuch des Admirals von Müller, das eine der meistzitierten Quellen zu Wilhelm II. überhaupt ist.
Im Zentrum der von Holger Afflerbach besorgten Edition "Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr im Ersten Weltkrieg" steht die Regierungstätigkeit, das Leben und die Persönlichkeit des Kaisers von der Julikrise 1914 durch den Ersten Weltkrieg bis hin zu seiner Abdankung und Flucht nach Holland im November 1918.
Die hier edierten Quellen zeichnen ein haarsträubendes Bild fast vollständiger Inkompetenz des letzten deutschen Kaisers, dessen Schwächen und Fehlverhalten auszugleichen die tatsächliche Hauptbeschäftigung seiner Umgebung war. Außerdem war Wilhelm II. ein derart schwieriger Charakter, dass ihn mancher in seiner Umgebung direkt schon hasste.
Das Plessen-Tagebuch ist nur in einer unvollständigen Abschrift erhalten. Die handgeschriebenen originalen Plessen-Tagebücher aus der Zeit des Ersten Weltkriegs befanden sich im Heeresarchiv in Potsdam und wurden dort höchstwahrscheinlich beim Brand des Archivs im April 1945 vernichtet. Diesen Brand überstanden haben nur die Arbeitsunterlagen und Abschriften von Originalquellen des "Reichsarchivs" (später: "Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres"), die 1945 von der Roten Armee erbeutet, später teilweise an die DDR zurückgegeben wurden und sich inzwischen im Militärarchiv in Freiburg befinden. Unter ihnen finden sich Teile des Plessen-Tagebuchs in maschinenschriftlicher, leider aber lückenhafter Abschrift.
Die insgesamt 1.501 annotierte Einzelquellen und eine umfangreiche Einleitung (insb. zum Forschungsstand) umfassende Edition öffnet erstmals den Zugang zu einer Alltags- und Mentalitätsgeschichte der Führung, d.h. sie erlaubt die Rekonstruktion des subjektiven Erlebens des Krieges durch die oberste politische und militärische Führung.
Info:
Kaiser Wilhelm II: als Oberster Kriegsherr im Ersten Weltkrieg. Quellen aus der militärischen Umgebung des Kaisers 1914-1918. Bearb. und eingel. von Holger Afflerbach (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften durch Klaus Hildebrand, Bd. 64), München 2005, XII u. 1.051 S., ISBN 3-486-57581-3; 118 Euro.