„Die große Einsamkeit des Kurt Gerstein“ ist der Arbeitstitel eines Films, den der französische Autor und Regisseur Gerard Raynal für den Fernsehsender Arte dreht. Wichtiger Schauplatz ist das Landeskirchliche Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen in Bielefeld, das den Nachlass des christlichen Widerstandskämpfers verwahrt. Gerstein war 1941 mit 35 Jahren in die SS eingetreten, um zu sabotieren und „im Auftrag Gottes“ der Welt als Augenzeuge von den Massenmorden der Nazis in den Konzentrationslagern zu berichten. Das Protokoll des Offiziers bildet den Hintergrund für Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ und den Film „Der Stellvertreter“ von Costa-Gavras. Er hatte im Mai 2002 Deutschlandpremiere im Bielefelder Kino CineStar.
Im April 1945 stellt sich Gerstein in Rottweil den französischen Truppen und schreibt auf einer geliehenen Schreibmaschine seinen Bericht über die Massenmorde.„Er fühlte sich damals zutiefst befreit durch Christus“, erklärt Raynal, der bereits einen Film über Jesuiten im Widerstand gedreht hat und sich mit der Person Gersteins seit rund 30 Jahren auseinandersetzt.
Die Schreibmaschine von damals steht im Landeskirchlichen Archiv Bielefeld und bekommt eine optische Hauptrolle in Raynals Film, denn der Bericht Gersteins steht im Mittelpunkt. „Die Schreibmaschine ist mehr als nur eine Maschine. Auf ihr tippt Gerstein seine Erlebnisse in gewichtigen, bedeutungsvollen Worten“, sagt Raynal.
Bild: Archivleiter Bernd Hey an der Schreibmaschine, auf der Gerstein seinen Bericht über den Holocaust verfasste. Hinter ihm Drehassistentin und Dolmetscherin Kristin Hoefener, Autor und Regisseur Gerard Raynal und Kameramann Lubomir Bakchev (v. l.). FOTO:Andreas Frücht (NW)
Der französische Militärrichter Matthei glaubt, das Gerstein ein großer Nazi-Verbrecher war, „sozusagen der Erfinder der Gaskammer“ (Raynal). Der Autor berichtet: „Gerstein hatte einen Dolmetscher, aber als er Matthei vom KZ Belzec berichtet, tut er das auf französisch. Matthei hört zu, stellt keine Fragen mehr und weiß nicht, was er sagen soll. Das ist ein großer Moment. Selbst der Richter hat vom Holocaust nichts gewusst.“ Gersteins Verteidiger Pierre Lehman schreibt an den Richter, dass sein Mandant unschuldig sei: „Dieses Dokument ist im französischen Militärarchiv erhalten. Wir werden es filmen“, sagt Raynal, auch dieses Fundstück: Ein Zettel, auf dem Gerstein um einen christlichen Anwalt bittet.
Das Militärarchiv in Frankreich macht Raynal Dokumente erstmals zugänglich. Das ist für für den Bielefelder Kirchenarchiv-Chef Professor Dr. Bernd Hey Anlass zur Hoffnung, ebenfalls Zugang zu bekommen. Hey verwaltet den Gerstein-Nachlass seit 1985 und hat im Jahr 2000 die viel beachtete Ausstellung „Kurt Gerstein – Widerstand in SS-Uniform“ konzipiert.
Eine Schallplatte, die der spätere SS-Obersturmführer besprochen hat und die im Bielefelder Archiv liegt, ist ebenfalls Teil der Dokumentation. „Man braucht Beweise und Dokumente für einen solchen Film. Dazu bin ich auf Archive angewiesen.“ Raynal ist es wichtig, dieses Archivmaterial lebendig werden zu lassen, dem Zuschauer etwa zu vermitteln, dass die Schreibmaschine und der Bericht von Gerstein berührt wurden. Gleichzeitig ist Raynal von Heys Arbeit mit dem Gersteinschen Nachlass tief beeindruckt und dankbar für die „freundliche Aufnahme in Bielefeld“.
Gersteins Protokoll der systematischen Massenvernichtung von Menschen lag bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen vor. „Darin schildert er auch, was er alles unternommen hat, um die Welt über die Greueltaten zu informieren“, berichtet Raynal. Doch die Holocaust-Frage wurde 1946 nicht wirklich gestellt. Erst beim Eichmann-Prozess in Israel 1961 sei sie in den Mittelpunkt gerückt. Die Alliierten hätten wohl kein besonders großes Interesse an Gersteins Bericht gezeigt, weil er ihre Mitverantwortung öffentlich gemacht hätte.
Raynals Team dreht mit zwei Videokameras in Farbe und einer 16mm-Filmkamera in schwarzweiß. „Alles Historische nehmen wir auf Film auf, denn Videotechnik gab es zu Gersteins Zeit nicht. Damit wollen wir eine Distanz zwischen heute und gestern schaffen“, sagt der Regisseur. „Selbst wenn Gerstein zwei Gesichter hat, bleibt er für mich ein Widerstandskämpfer, der eine innere Tragödie erleben musste. Er war in Deutschland allein und in Frankreich.“ Im Militärgefängnis Cherche-Midi wurde er am 25. Juli 1945 erhängt aufgefunden. Hey und Raynal sind überzeugt, dass sich Gerstein, der auch als „Spion Gottes“ bezeichnet wird, das Leben genommen hatte. – Als Symbol für seine Dokumentation ließ Raynal in Bielefeld tauenden Schnee auf dem Mahnmal der deportierten jüdischen Mitbürger am Hauptbahnhof aufnehmen: „Der Film soll zeigen, dass die Dinge wieder offen liegen.“
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Quelle: Frank Bell, Neue Westfälische, Nr. 50, 28.2.2006 mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. (Download des Artikels als pdf-Datei)