Das im Jahr 1950 von dem deutschen Psychologen und Arzt Prof. Dr. Dr. Hans Bender (1907-1991) in Freiburg/Br. gegründete \“Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V.\“ (IGPP) ist seit seinen Anfängen bestrebt, die im Rahmen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit anfallenden Materialien aufzubewahren und längerfristig zu sichern. Im gleichen Maße wie das gesamte Institut durch seine sehr spezifischen Forschungsinteressen eine einzigartige Stellung in der europäischen Wissenschaftslandschaft einnimmt, ist auch das im Aufbau befindliche Archiv von besonderer Bedeutung. Die aufbewahrten Bestände stammen überwiegend aus dem 20. Jahrhundert.
Entlang den Themen einer mittlerweile über fünf Jahrzehnte währenden Forschungsarbeit archiviert das IGPP vielfältiges Material zu allen Formen außergewöhnlicher Erfahrungen von Menschen. Den Schwerpunkt der Institutsarbeit und dementsprechend der Archivierung bilden traditionell die beiden Forschungsbereiche Außersinnliche Wahrnehmung (ASW), worunter Inhalte wie Telepathie, Hellsehen und Präkognition zu zählen sind, sowie Psychokinese (PK), d.h. die rein mentale Beeinflussung physikalischer Systeme.
Bei den gesammelten Unterlagen handelt es sich zum einen um eher konventionelle Bestandsformen (Nachlässe, Korrespondenzen, Fotografien), zum anderen innerhalb des umfangreichen Bestandes \“Dokumentation und Forschung\“ um bemerkenswertes Quellenmaterial eindeutig qualitativen Charakters. Hier sind hauptsächlich die Dokumentation zahlreicher durch das Institut untersuchter so genannter Spukfälle sowie Sammlungen von so genannten Spontanphänomen, aber auch von Traumberichten zu nennen. Zukünftig werden die vorhandenen Archivalien unter Berücksichtigung des notwendigen Datenschutzes nicht ausschließlich für die (para-) psychologische Forschung von Bedeutung sein, sondern sie könnten durchaus verstärkt für eine Auswertung unter historiographischen, kulturwissenschaftlichen oder den verschiedensten sozialwissenschaftlichen Fragestellungen herangezogen werden.
In der Historiographie zur Parapsychologie hat bisher der Umstand, dass eine Reihe von Personen, die zeitgenössisch als Hellseher, Paragnosten oder Telepathen Bekanntheit erlangt haben, Juden waren, kaum oder gar keine Beachtung gefunden. Vorliegende Forschungen zu parapsychologischen Bezugspunkten in der jüdischen Kulturgeschichte befassen sich entweder mit biblischen oder aber mit rabbinisch-talmudistischen Traditionen, während für die Neuzeit oder gar für die Zeitgeschichte bislang nur wenig bekannt ist. Deshalb sollen in einem eigenen Forschungsprojekt Persönlichkeiten jüdischer Herkunft aus der Geschichte der Parapsychologie im Mittelpunkt stehen.
Das biographiegeschichtliche Projekt hat seinen Ort im Rahmen der Abt. Kulturwissenschaftliche und Wissenschaftshistorische Studien, dort im Forschungsschwerpunkt Parapsychologie und Biographie. Neben einer schon prominenten Gestalt wie Hermann Steinschneider alias \“Hanussen\“ (1889-1933) sollen vorrangig bisher noch wenig bekannte Lebensläufe wiederentdeckt und untersucht werden. Im Mittelpunkt stehen Biographien von Jüdinnen und Juden, deren außergewöhnliche Fähigkeiten das Interesse der wissenschaftlichen Parapsychologie geweckt haben und Anlass zu Diskussionen gegeben haben. Zumindest mit erfasst wird der Bereich der jüdischen Trick- und Illusionskunst.
Das Forschungsprojekt wird zum einen archivarische Arbeiten umfassen, wie etwa die systematische Erschließung der zahlreichen Unterlagen zum Fall \“Hanussen\“ im Teilnachlass des Juristen Albert Hellwig im IGPP-Archiv. Ein zweiter Aufgabenbereich besteht in der Erarbeitung biographischer Studien, etwa zu dem amerikanisch-polnischen Hellseher Bert Reese (um 1841-1926), zu dem aus Süddeutschland stammenden Ludwig Kahn (1873-um 1966), zu Ludwig Aub (1862-1926) aus München oder zu dem Graphologen und \“Psychometriker\“ Raphael Schermann (1879-um 1945) aus Wien. Wenn möglich, d.h. wenn durch Quellen ausreichend belegbar, werden weitere jüdische Hellseher oder Paragnosten berücksichtigt. Dafür sind neben der Auswertung der Bestände im IGPP-Archiv auch Recherchen in anderen Archiven notwendig.
Es soll untersucht werden, ob und inwieweit jüdische Sozialisationsformen und Traditionslinien von Relevanz für die Tätigkeit und Wirkung dieser Personen sowie für ihre jeweilige Außen- und Eigenwahrnehmung waren bzw. in welcher Weise sich historische Verläufe und Ereignisse sowie gegebenenfalls antijüdische Ressentiments auf ihre Biographien auswirkten. Die komparatistische Perspektive fragt nach möglichen Gemeinsamkeiten sowie Unterschieden in den Lebensläufen jüdischer Hellseher und Paragnosten. In einem erweiterten Ansatz kann der Blick darauf gerichtet werden, weiche Bedeutung der oft nicht berücksichtigten Gesamtbiographie einer solchen Persönlichkeit für deren Erfolg oder Misserfolg, für deren Anerkennung oder Ablehnung im Gesamtrahmen der Parapsychologie zukommt. Unter diesen Gesichtspunkten ist das Forschungsprojekt an einer durch das Projekt selbst noch zu klärenden Schnittstelle zwischen der jüdischen Kultur- bzw. Sozialgeschichte und der Geschichte der Parapsychologie verortet.
Info:
Uwe Schellinger: Faszinosum, Filou und Forschungsobjekt: Das erstaunliche Leben des Hellsehers Ludwig Kahn (1873 – ca. 1966), in: Die Ortenau. Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Mittelbaden 82 (2002) 429-468.
Kontakt:
Uwe Schellinger M.A.
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