Die Macht der Archive im Nationalsozialismus

Unter den Nazis wurden die deutschen Archive mächtig. Welche Funktionen die Archive im NS-Staat einnahmen und wie sich die Archivare zwischen 1933 und 1945 verhalten haben, war bekanntlich Thema des diesjährigen 75. Deutschen Archivtags in Stuttgart. Dieses Thema war bisher allerdings nur in lokalen Einzelstudien, nicht jedoch im größeren Rahmen untersucht worden. In der Vergangenheit hätten bei Deutschen Archivtagen, so erklärte der scheidende VdA-Vorsitzende Volker Wahl entschuldigend, überwiegend methodische und fachspezifische Fragen im Mittelpunkt gestanden. Der Anstoß für die verspätete Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der eigenen Zunft war von Mitgliedern des Berufsfachverbandes ausgegangen, im Anschluss an eine Diskussion über die politische Vergangenheit des ersten Präsidenten des Bundesarchivs.

Die Archive als wissenschaftliche Institutionen wurden zu Partnern des nationalsozialistischen Unterdrückungsapparates. Durch die rassistische Gesetzgebung seit 1933 erhielten die Archive im "Dritten Reich" eine ganz neue gesellschaftliche Funktion. \“Es gibt keine Rassenpolitik, es gibt auch keine Erbbiologie ohne Archive\“, formulierte der Direktor der staatlichen Archive Bayerns, Josef Franz Knoepfler, auf dem Deutschen Archivtag in Karlsruhe 1936. In den besetzten Gebieten betrieben Archivare einen "Archivgutschutz", um den Wert der Unterlagen für die deutschen politischen und wissenschaftlichen Interessen durch raschen Zugriff sicherzustellen. 

Bei der Erbringung von "Ariernachweisen" ermittelten und inventarisierten die Archive gezielt Unterlagen zur "Judenfrage" und halfen durch die Auswertung ihrer Unterlagen bei der Erstellung erbbiologischer Gutachten, bei der Ermittlung der \“Nichtarier\“ – mit den bekannten Auswirkungen. Der Entlassung folgte die Ausgrenzung und dann im schlimmsten Fall die Deportation und die Ermordung. Nicht nur die großen staatlichen, auch die Kommunalarchive sowie Kirchen- und Pfarrarchive waren bei der Erstellung der "Ariernachweise" behilflich.

Hatte sich die Arbeit der Archivare vor 1933 gleichsam in der Zurückgezogenheit der Studierstuben abgespielt, so war man nun plötzlich \“im Kern des Nationalsozialismus\“ angesiedelt (Robert Kretzschmar). Die Archivare genossen fatalerweise die ungewohnte Aufmerksamkeit und identifizierten sich mit ihrer neuen Aufgabe. – Über die Karrierewege der nach 1945 leitenden Archivare wisse man bis heute wenig, so Volker Wahl. Vielen dürften ihre Kenntnisse und Möglichkeiten genutzt haben, um unliebsame Spuren zu verwischen.

Links:

Quelle: Alexander Bahar, Junge Welt, 13.10.2005

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.