Fotos von Urkunden aus dem 9. Jahrhundert wiederentdeckt

Als verschollen oder gar verloren gelten heute viele Originalurkunden aus der Zeit vor dem Jahr 1250, so dass in wissenschaftlichen Dokumentationen vielfach große Lücken klaffen. Häufig sind Forscher dann auf das Marburger Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden angewiesen. Weil man hier bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und damit noch vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Sammeln und Fotografieren der Originale begann, konnten zahlreiche Urkunden für die Nachwelt abgelichtet und festgehalten werden.

Jüngst nun kamen im Lichtbildarchiv, das von Professor Dr. Andreas Meyer vom Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften der Philipps-Universität Marburg geleitet wird, zwei besonders spektakuläre Exemplare aus den Beständen wieder zum Vorschein, unter anderem zum Nutzen von Theo Kölzer, Bonner Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften und Leiter eines wissenschaftlichen Projekts, das die Urkunden Ludwigs des Frommen, des 840 gestorbenen Sohns von Kaiser Karl dem Großen, ediert. Die Urkunde Ludwigs hat besondere Bedeutung: Es ist das einzige erhaltene Stück, das der Kaiser für das Kloster Inden bei Aachen ausstellen ließ. Darin verlieh er dem von Abt Benedikt geleiteten Kloster – Benedikt stand Ludwig seit dessen Zeit als Unterkönig in Aquitanien besonders nahe – Zollfreiheit zu Wasser und zu Land. Die Marburger Abbildung wird nun die Textgrundlage der Bonner Edition bieten. 

Der Glücksfall ist Francesco Roberg zu verdanken, den Betreuer des Lichtbildarchivs, dem bei alltäglichen Aufräumarbeiten diese Fotografie in die Hände fiel. Die ursprünglich im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf gelagerte Urkunde war dort 1964/65 bei Umbaumaßnahmen verschwunden und ist seitdem nicht mehr aufgetaucht. Das Marburger Foto müsse daher als Primärquelle gelten, so der Bonner Forscher Kölzer. Weil die Urkunde gemeinsam mit einem Maßstab abgelichtet wurde, konnten seine Mitarbeiter zudem ermitteln, wie groß das Original war. 

Noch spektakulärer ist ein zweiter Fund aus der jüngsten Vergangenheit. Wieder geht es um eine Urkunde Kaiser Ludwigs des Frommen, die eine regelrechte Irrfahrt durch halb Europa hinter sich hat. Sie datiert vom 5. Februar 832, in ihr verfügt der Kaiser weitreichende Landschenkungen an seinen Getreuen Aginulf. Auf bisher ungeklärte Weise gelangte sie zunächst in das Archiv des Klosters Inden und von da aus Jahrhunderte später in die Eremitage nach St. Petersburg. Von dort aus verschlug sie das Schicksal in den Besitz des Historikers Ignacy Onacewicz (1780 bis 1845), eines aus Weißrußland stammenden Professors der Universität Wilna, bevor sie um 1900 der Pariser Nationalbibliothek vergeblich zum Kauf angeboten wurde. Seitdem gilt sie als verschollen. Später wurde allerdings ein Foto gemacht, das der Marburger Gelehrte Paul Fridolin Kehr (1860 bis 1944), der im Jahr 1894 das Institut für Historische Hilfswissenschaften in Marburg gegründet hatte, wo auch die Urkundenforschung beheimatet ist, in seine Unterlagen aufnahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ der Leiter des inzwischen gegründeten Lichtbildarchivs, Edmund Ernst Stengel, für die entstehende Sammlung ein Photo von jenem ersten Photo herstellen, das selbst später verbrannte – und rettete damit die Urkunde für die Nachwelt. – Auch unabhängig von den neuen Funden ist das Marburger Lichtbildarchiv für die Forschung von enormem Wert.

Kontakt:
Institut für mittelalterliche Geschichte der Philipps-Universität Marburg
Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden
Wilhelm-Röpke-Straße 6c
35039 Marburg
Tel.: (06421) 28 24555

Quelle: idw/Uni-Protokolle.de, 15.9.2005

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