Verluste im Archiv des Filmstudios United Artists

Nach einem stehenden Bonmot der Kinofreunde bedeutet Filmen, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Im Wirtschaftssystem Hollywood geht der Tod aber auch nach dem Filmen umher. Rund um die Berlinale-Aufführung von Michael Ciminos Film \“Heaven\’s Gate\“ (1980) ist jetzt ein eklatanter Fall von Zerstörung bekannt geworden. Das Filmstudio United Artists hat nach der Übernahme durch MGM Anfang der neunziger Jahre fast sein gesamtes Archiv mit nicht verwendetem Material weggeworfen. Darunter Szenen aus Filmen wie Martin Scorseses \“The Band\“ und \“Wie ein wilder Stier\“, den Rosaroter-Panther-Filmen, \“Yentl\“, John Waynes \“The Alamo\“, den Klassikern von Woody Allen wie \“Was Sie schon immer über Sex wissen wollten\“, \“Der Stadtneurotiker\“, \“Manhattan\“. Und zwar aus simplen, ziemlich kurzatmigen Kostengründen.

Der Filmhistoriker Michael Epstein zeigt bei der Berlinale den Dokumentarfilm \“Final Cut\“ über den Fall von \“Heaven\’s Gate\“, der seinen Regisseur und das Studio ruinierte. Für die Arbeit an der Dokumentation gewährte United Artists Zugang zum Archiv. Epstein suchte das gesamte Material durch – gedreht wurden 200 Stunden – und war schockiert: MGM habe alle Out-Takes weggeworfen. Nicht nur von Heaven\’s Gate. Alle Kisten wurden weggeschmissen, um 20 000 Dollar Lagerkosten einzusparen. Es sei absolut verbrecherisch gewesen. Der Archivar von MGM/UA, John Kirk, bestätigte in Berlin den Verlust.

Daß in Hollywood vor oder nach den Premieren Filme geschnitten und das Material vernichtet wurde, ist eine betrübliche, alte Geschichte. Die Liste der zerstörten Werke ist ziemlich lang. Aber die Müllentsorgung bei United Artist erzählt nicht nur von der kulturellen Wertschätzung der Filmgeschichte. Sondern auch von wirtschaftlicher Dummheit.

Anfang der neunziger Jahre, als die Wegwerfaktion stattfand, kamen die ersten \“Director\’s Cuts\“ ins Kino, und Hollywood entdeckte die Möglichkeit einer Wiederverwertung alter Filme unter dem Schlagwort der künstlerischen Autonomie. Hineingeschnitten wurden dabei genau die nicht verwendeten Szenen aus den Archivkellern, die bei allen Dreharbeiten entstehen. Die Filme gewinnen durch zusätzliches Material nicht unbedingt an Qualität, aber an Länge.

Und seit das Medium DVD sich durchgesetzt hat, haben sich Archive für Filmstudios erst Recht zu purem Gold entwickelt. Ein Markt für Spezialeditionen und Luxus-DVDs ist regelrecht neu entstanden. Die Filmgeschichte ist wieder profitabel, was seit dem Ende der Programmkinos im Videozeitalter kaum noch der Fall war. Heute wird keine Szene mehr weggeschmissen, weil das meiste davon sich zum Füllen von DVD-Produktionen verwenden läßt.

Quelle: Holger Kreitling, Die WELT, 17.2.2005

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