Das deutsche Kulturerbe ist sicher: In einem alten Bergwerksstollen im Schwarzwald werden Zeugnisse der deutschen Geschichte und Kunst für künftige Generationen bombensicher konserviert. Doch die Erinnerung ist sehr selektiv: Populärkultur blieb bisher außen vor.
Was mag das Bundesverwaltungsamt für Zivilschutz mit einem aufgelassenen Bergwerk tief im Schwarzwald anfangen wollen? Diese Frage stellten sich 1972 die örtlichen Kommunalbeamten in Oberried südöstlich von Freiburg im Breisgau, als die Bundesbehörde in großer Heimlichkeit eine ausgebeutete Silbermine kaufte und sogleich begann, die Stollen mit Beton auszuschalen. Und sie rätselten immer noch, als knapp drei Jahre später die ersten Lastwagentransporte über den geschotterten Holzweg zum Barbarastollen rumpelten. Ein geheimer Kommandobunker? Augenzeugenberichte von meterhohen Stahlfässern machten die Runde. Giftmüll? Gar Atomwaffen?
Es dauerte viele Jahre, bis die Nation erfahren durfte, dass dort, ganz im Südwesten des Landes, ihr Langzeitgedächtnis liegt. Die wuchtigen Edelstahlfässer bergen das wohl umfassendste Archiv deutscher Kulturgeschichte – und zweifellos das dauerhafteste: Die garantierte Mindesthaltbarkeitszeit der Fässer beträgt 500 Jahre.
Behütet wie Gold
In jedem der luftdicht verschraubten Fässer ruhen bei konstant 10 Grad Celsius und 35 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit 15 oder 16 Mikrofilmspulen, belichtet mit ausgewählten Dokumenten aus den unterschiedlichsten deutschen Archiven. Ferne Generationen können dort den Vertragstext des Westfälischen Friedens nachlesen, die Handschrift Helmut Kohls studieren und sich in den Bauplan des Kölner Doms vertiefen. An die 22 Millionen Meter dichtester Lesestoff warten auf künftige Besucher, vorausgesetzt, sie bringen Lupe und Taschenlampe mit – und genügend Geduld: Ein Register ist den inzwischen mehr als 600 Millionen Dokumenten nicht beigefügt.
Die Sicherheitsmaßnahmen für den \“Zentralen Bergungsort\“ könnten auch für die Goldreserven der Bundesbank kaum größer sein: halbmeterdicke Stahltüren, Zahlenschlösser, Bewegungsmelder und Wachkameras. Flugzeuge müssen einen Bogen um das Gebiet machen. Nach dem Terroranschlag am 11. September 2001 wurde die Bewachung verschärft. Immerhin macht das jüngst umgetaufte Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe heute kein Geheimnis mehr aus der Existenz des Barbarastollens. Aber Deutschlands kulturträchtigster Ort bleibt eine Tabuzone: Nähere Auskünfte und Zutrittserlaubnis gibt es nur mit ministerieller Genehmigung.
Safe mit Seltenheitswert
Wozu eigentlich all der Aufwand? Schließlich haben Inkunabeln und Krönungsurkunden auch ohne Stahlverpackung die Kriege, Brände und Seuchen bis in unsere Zeit überstanden – oft länger als 500 Jahre. Seit 50 Jahren schützt noch dazu die Haager Konvention Kulturgut vor der Zerstörung in bewaffneten Konflikten. Doch in Zeiten des Kalten Krieges wollten sich die Zivilschützer nicht auf die Zielgenauigkeit potenzieller Feinde verlassen, und so begannen sie, das kulturelle Vermächtnis der Nation möglichst weit weg von der Bedrohung aus dem Osten atombombensicher unter 200 Metern Gneis und Granit zu bunkern. Zur Ermahnung völkerrechtlich kundiger Angreifer wurde zudem der Stolleneingang mit drei blauweißen Rautenemblemen markiert. Das bedeutet Sonderschutz nach den Regeln von Den Haag. Gerade mal eine Hand voll Objekte weltweit genießen ihn.
In der Tat ist der Zentrale Bergungsort eine weltweite Rarität. Nur wenige andere Staaten unterhalten ähnliche Kulturkavernen: Die Schweizer lagern ihre Mikrofilmschätze in einem Sandsteinbruch bei Bern ein. Die norwegische Nationalbibliothek hortet sämtliche im Land erscheinenden Bücher, Zeitungen, Magazine, Bild- und Tonträger in einer riesigen Höhle im Mofjellet-Gebirge, teils im Original, teils digitalisiert oder auf Mikrofilm. Dass ein nationaler Kultursafe auch nach dem Ost- West-Konflikt noch seinen Sinn hat, zeigte sich in den letzten Jahren, als die Fluten von Elbe und Oder dutzende von Archiven und Bibliotheken durchnässten – und als diesen Sommer die einst von Goethe frequentierte Bibliothek der Herzogin Anna Amalia in Weimar brannte. Erst kurz zuvor hatte die großmaßstäbliche Sicherheitsverfilmung historischer Buchbestände zwecks Einlagerung im Barbarastollen begonnen. Auch die Anna-Amalia-Bibliothek stand auf der Liste.
Honorige Hinterlassenschaft
Nun soll der Schoß des Schwarzwalds also die wichtigsten deutschen Schriftwerke vor Naturkatastrophen, Tintenfraß und Papierzerfall statt vor der nuklearen Apokalypse bewahren. Die Frage ist nur: Welche sind die wichtigsten? Nach jetzigem Stand werden Historiker der Zukunft im Barbarastollen viel Staatstragendes finden, doch ihr mögliches Interesse etwa für Populärkultur würde enttäuscht. Die Entscheidung darüber, was als Bild unserer Epoche bleibt, überlässt die Gesellschaft den Archivverwaltungen. Die betreffenden Richtlinien sind bewusst so allgemein gehalten, dass bei der Auswahl große Ermessensspielräume bleiben: Nur \“Archivgut mit besonderer Aussagekraft zur deutschen Geschichte und Kultur\“ wird auf Polyester gebannt, und zwar möglichst in einem \“repräsentativen Querschnitt in zeitlicher, regionaler und sachlicher Hinsicht\“. Darunter fällt nach Ansicht der Archivare das Programm der Bayreuther Festspiele, aber nicht der aktuelle Wies\’nhit.
Diesen Sommer immerhin bewiesen die Archivare Mut zur Neuerung, als sie Werke von 50 Künstlern der Gegenwart miniaturisierten, eindosten und im Barbarastollen verstauten – darunter der Schriftsteller Durs Grünbein und der Maler Jörg Immendorf. Die Verewigten bemühten sich, in unser aller Namen einen guten Eindruck zu hinterlassen: \“Die Nachwelt soll nicht mit Blödsinn belastet werden\“, sagte die Hamburger Künstlerin Nana Petzet. Nun wird ihr mikroverfilmtes Tagebuch sie um viele Jahrhunderte überdauern, in einem Stahlfass unter dem Schwarzwald.
Quelle: Der Spiegel, 17.1.2005 (Tobias Hürter), © Technology Review, Heise Zeitschriften Verlag, Hannover