Wie weit darf ein Historiker bei der Jagd nach Akten gehen?

Russland begann 1992 damit, Fehlurteile ihrer Militärgerichte in Deutschland nach 1945 aufzuheben. Die Deutsche Botschaft in Moskau meldet dann das Ergebnis in die Heimat. Der Dresdner Historiker Klaus-Dieter Müller hatte allerdings aus Forscherinteresse, um eine Gerichtsakte einsehen zu können, einen Rehabilitierungsantrag für den Nazi-Massenmörder Hans Heinze gestellt. Peinliche Folge: \“Euthanasie\“-Heinze, der im Zweiten Weltkrieg Hunderte Kinder und Jugendliche in den Tod schickte, wurde von seinen Verbrechen freigesprochen. Der fast sieben Jahre zurückliegende Fall wurde erst jetzt publik gemacht.

Bereits im Februar 1998 hatte die Deutsche Botschaft in Moskau dem Historiker Müller, jetzt Angestellter bei der vom Land gegründeten Stiftung Sächsischer Gedenkstätten, brieflich mitgeteilt, \“dass die Militärhauptstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation in Moskau Hans Heinze […] rehabilitiert hat.\“ Die Rehabilitierung des 1983 verstorbenen Nazi-Verbrechers Heinze war nur eingeweihten Fachkreisen bekannt geworden, jetzt droht sie, laut SPIEGEL, zum Kollateralschaden wissenschaftlicher Arbeit zu werden.

Das notorische Problem dieser Arbeit sei der Zugang zu den Akten in den russischen Geheimdienst-Archiven. Da die Russen Informationen über einen Ex-Häftling nur in dem Fall herausrücken, wenn Angehörige oder Wissenschaftler aus Deutschland einen Rehabilitationsantrag stellen, so nutzte Klaus-Dieter Müller diesen \“Schleichpfad in russische Archive\“, den auch andere Wissenschaftler in Einzelfällen gingen. Müller stellte aber nicht nur einen Antrag, sondern bis zu 2.000. Hebt die russische Militärstaatsanwaltschaft dann nach ein paar Monaten ein Urteil tatsächlich auf, darf sich Müller mit einer Vollmacht der Angehörigen die ganze Akte ansehen. Bleibt es dagegen beim alten Spruch, bekommt er zumindest noch einige Informationen, warum die Russen damals einen Deutschen abgeurteilt hatten. – In einem in Kürze erscheinenden Aufsatz wird Müller sein Vorgehen erklären. Schon jetzt sagt er, dass dies ein Einzelfall geblieben sei, dass es in solchen Sonderfällen heute andere Mittel gebe, um in die russischen Archive zu schauen, Mittel ohne unerwünschte Nebenwirkungen wie bei Heinze.

Kontakt:
Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Dr. Klaus-Dieter Müller (Leiter Dokumentationsstelle Widerstands- und Repressionsgeschichte in der NS-Zeit und der SBZ/DDR)
Dülferstraße 1
01069 Dresden
Tel. (03 51) 4 69 55 48
Fax. (03 51) 4 69 55 41
klaus-dieter.mueller@stsg.smwk.sachsen.de

Quelle: Jürgen Dahlkamp, SPIEGEL online, 24.8.2004

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