Außerschulischer »Lernort Archiv« etabliert

Neue Lehrpläne verlangen nicht nur in Baden-Württemberg kreative Lösungen, wenn Schulen ihr eigenes Profil schärfen müssen. Für den Unterricht in den Fächern Geschichte und Gemeinschaftskunde ist dabei der „außerschulische Lernort“ ARCHIV längst in den Blick genommen worden. Oft fehlen allerdings Ideen zur Umsetzung. Die Karlsruher Tagung für Archivpädagogik – eine Initiative des Generallandesarchivs Karlsruhe mit dem Oberschulamt und dem Landesmedienzentrum – bietet seit einigen Jahren in vorbildlicher Form Lehrern und Archivaren hierfür eine intensiv genutzte Plattform des Austauschs, wie Oberschulamtspräsident Dr. Schnatterbeck in seiner Begrüßung hervorhob.

Zur nunmehr 5. Tagung am 12. März 2004 wurde aufgrund des zu verspürenden starken Interesses an Lebensgeschichten das Thema Biographie gewählt. Der Einstieg in geschichtliche Zusammenhänge erfolgt vielfach – wieder – über einzelne Personen und Lebensschicksale.

Überzeugend war das Tagungsprogramm durch die bewährte Mischung aus Grundsätzlichem und Praxisorientiertem. Dabei wurde aufgezeigt, an welchen – auch unerwarteten – Stellen biographisch auswertbares Material in Archiven zu finden ist. Jürgen Treffeisen von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg forderte detektivischen Spürsinn, denn nicht nur in Personalakten, in denen eine gesuchte Person gleichsam „Subjekt“ ist, sind Hinweise zu Lebenssituationen zu ermitteln, sondern auch in den Akten, in denen Personen „Objekte“ staatlichen Handelns waren. Am Beispiel des ersten (Nord-)Badischen Oberpräsidenten 1945 Karl Holl konnte er mit Hilfe der Personalakte eine Karriere nachzeichnen, aber auch mit der Akte des Spruchkammerverfahrens die Verstrickungen Holls in der NS-Zeit freilegen. Während bei Personen des 19. und 20. Jahrhunderts mit Akten vielfach detailliert Lebensumstände beleuchtet werden können, bieten Quellen des Mittelalters selbst für historisch bedeutende Gestalten kaum individuelle Informationen. Der Weg, den Treffeisen vorführte, Auskünfte zu einem Tennenbacher Abt zu erhalten, ist zwar äußerst spannend, aber diese aufwändige Arbeit ist für Schülergruppen in der Regel nicht zu leisten. Dennoch sollte der Zugang zu über Personen stärker als bisher genutzt werden, denn die Quellenlage in den Archiven ist zumindest für die neueste Geschichte ausgesprochen gut und – so bilanzierte Treffeisen „mit logischem Denken und etwas Geduld, lassen sich beeindruckende Ergebnisse erzielen.“

Gerade bei Themen zum 20. Jahrhundert lassen sich aber viele Interessenten von der Archivarbeit durch das Schlagwort „Datenschutz“ abschrecken. Martin Stingl vom Generallandesarchiv Karlsruhe rief dazu auf, den Schutz der Persönlichkeitsrechte Betroffener und damit eine Hürde zur zeitgeschichtlichen Forschung ernst zu nehmen, aber auch die gegebenen Chancen zu nutzen. Durch ganz klare archivgesetzliche Verfahren werden bei der Nutzung Möglichkeiten eröffnet, die stets nachgefragten Akten zum Verhalten von Personen während der NS-Zeit auszuwerten. In der intensiven Diskussion unter den Teilnehmern wurde deutlich, dass die Vorlage der Quellen in den Archiven ausschließlich den rechtlich vorgegebenen Rahmenbedingungen folgt, die keineswegs forschungsfeindlich sind. Dabei werden aber bei der Auswertung gerade Schülergruppen oft vor Probleme gestellt: Sie erhalten durch das Aktenstudium nicht nur bei entsperrten Akten Informationen, die sie nicht verwerten dürfen, die aber für sie gleichwohl „belastend“ wirken können. Offen blieb die Frage nach der ethisch motivierten Steuerung von Archivnutzung in solchen Situationen durch Lehrer und Archivare.

Am Nachmittag wurde den etwa 100 Teilnehmern im Rahmen einer Messe zehn aus ganz Deutschland zusammengetragene Projekte z.T. von den beteiligten Schülern selbst präsentiert; darunter befanden sich zum ersten Mal Datenbanken für historische Dokumente. Methodisch reichte der Bogen von Plakat-Ausstellungen und klassischen Broschüren über elektronische Präsentationen bis zu aufwändigen Unterrichtsmodellen und Projekten mit außerschulischen Partnern, wie z.B. der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt.

Das Stadtarchiv Bruchsal präsentierte das Projekt „500 Jahre Bundschuh unter Joß Fritz“, das im Rahmen des Bruchsaler Gedenkjahres 2002, bei dem u.a. durch einen Schulwettbewerb ausgeschrieben Schüler aller Klassenstufen und Schularten mit Beiträgen zum Thema Mittelalter, Bauernkriege usw. beteiligen konnten. Die attraktiven Wettbewerbsbeiträge reichten von einem lebensgroßen „Bauernkriegsfähnrich“ aus Eisenteilen, den eine berufliche Schule gefertigt hatte, über das Hörspiel „Der Pfeifer von Niklashausen“ bis hin zu einem Würfelspiel „Bauer-ärgere-dich-nicht“. Der Präsident des Oberschulamtes Karlsruhe hatte die Patenschaft über den Wettbewerb übernommen und Sponsoren stellten attraktive Geld- und Sachpreise zur Verfügung zu stellen. Die Wettbewerbsbeiträge konnten im Rahmen der Ausstellung „Das verborgene Feuer“ über die Bauernkriege unter Joß Fritz im Schloss Bruchsal gezeigt.

Ebenfalls alle Klassenstufen und Schulfachgrenzen überschritt das Archiv des Erzbistums München und Freising mit dem archivpädagogischen Projekt „Kirschgeist und Trompetenschall. Der Freisinger Fürstbischof auf Firm- und Kirchweihereise im Oberland 1786“: Mit Gefolge und drei Kutschen bereiste der Freisinger Fürstbischof Ludwig Joseph von Welden den Raum des heutigen Landkreises Miesbach, um Kirchen zu weihen und mehr als 8.000 Kindern und Jugendlichen das Sakrament der Firmung zu spenden. Als Quelle diente das im Archiv des Erzbistums erhaltene Reisetagebuch eines fürstbischöflichen Hofkavaliers mit einer sehr anschaulichen Beschreibung des Reiseverlaufs, der Aufenthalte an den einzelnen Orten und der Eigentümlichkeiten von Land und Leuten. Weiter hinzugezogen wurden Firmungsbücher, Personalakten, Singspieltexte, Musikalien, Porträts und Ortsansichten, Abrechnungen, Essenslisten, Weiheurkunden und Briefe aus denen sich ein überaus farbiges Bild der damaligen kirchlichen Verhältnisse und des Lebens von Bischöfen, Mönchen, Beamten, Bauern und Kindern in Oberbayern ergab.

Alle Schulen des Landkreises wurden eingeladen, sich mit den archivischen Quellen in alters- und schulartgemäßen pädagogischen Formen zu beschäftigen und dabei den Zielen des fächerübergreifenden Unterrichts, des Projektunterrichts, des Regionalbezugs und der Einbeziehung außerschulischer Lernorte (Archiv, Kirche) Projektergebnisse in den Fächern Musik, Kunst, Geschichte, Deutsch, Latein, Mathematik, Physik und Religion von Schülern von der 3. Klasse bis zur Oberstufe sowie die Originalarchivalien waren vom 17.2. bis 1.4.2002 in einer Ausstellung im Miesbacher Kulturzentrum \“Waitzinger Keller\“ zu sehen. Die Ausstellung samt Begleitveranstaltungen erreichten rund 3.500 Besucher.

Beide Präsentationen zeigten, dass mit entsprechender Vorbereitung auch Quellen vor 1800 trotz der für Schüler nicht einfachen Schrift mit Erfolg ausgewertet und genutzt werden können.

Eine hohe Motivation ist bei Schülerinnen und Schülern in der Regel durch die Beschäftigung mit Schicksalen von Opfern des Nationalsozialismus zu erreichen.

Einen langen Atem, der bei der Arbeit mit historischem Material oft nötig ist, bewiesen vier Schülerinnen einer 5. Klasse des Ludwig-Marum-Gymnasiums in Pfinztal. Eine angestrebte Dokumentation über die jüdischen Friedhöfe der Region entwickelte sich mit Zeitzeugenbefragungen und Quellenstudium zu einem größeren Beitrag, der zwei Jahre später im Rahmen eines Wettbewerbs prämiert wurde. Dabei konnte festgestellt werde, dass auch Schüler der Sekundarstufe I für Archivarbeit interessiert werden können, insbesondere wenn eine lokale Verwurzelung des Themas möglich ist.

Dass auch in schulischen Projekten auf „Neuland“ vorgestoßen werden kann, zeigte sich an der Ausstellung einer Arbeitsgruppe der Stufe 13 des Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums in Heidelberg. Dabei wurde den Lebensläufen der Juden nachgegangen, die nach den ersten Deportationen durch ihre christlichen Ehepartner noch eine Zeitlang vor der Ermordung geschützt waren. Am Beispiel des Historikers Paul Hirsch wurde an die Deportation der jüdischen Ehepartner aus „Mischehen“ vom 14. Februar 1945 (!) erinnert.

Über den – umstrittenen – lippischen Widerstandskämpfer Willi Langenberg (1910-1944) präsentierte das Staatsarchiv Detmold eine Unterrichtsreihe. Der einzige über seine Heimatregion hinaus bekannte Widerstandskämpfer aus Lippe stößt in seiner Heimatstadt aufgrund der Art und Weise seines Kampfes gegen Hitler bis heute auf Misstrauen. Langenberg beteiligte sich 1932 an nächtlichen Aktionen der KPD, wurde 1932 in eine Schießerei mit SA- und SS-Leuten verwickelt und verhaftet. Nach einem Ausbruch lebte er in der Illegalität und führte ab 1942 mit seinen Freunden Widerstandaktionen unterschiedlicher Art durch: Handzettelverteilungen, Wandparolen, Anschläge auf Bahnlinien, Sabotage von Stromleitungen, Brandanschläge, Einbrüche, darunter in ein provisorisches Waffendepot der Wehrmacht. Einer drohenden Verhaftung entzog er sich durch Selbstmord.

Bei der Vorbereitung der dargestellten Unterrichtsreihe erfuhr der durchführende Lehrer, dass viele bisher schweigende Zeitzeugen nun bereit seien, über die Vorgänge von 1942-44 zu reden. Zugleich wurden die einschlägigen Bestände im Staatsarchiv Detmold gesichtet. Der Pädagoge entschloss sich, die Unterrichtsreihe im Politikunterricht in einer Fachoberschul-Klasse (FOS) mit den Schwerpunkten Elektro / Metall durchzuführen. Es wurde von Anfang eine Präsentation der Ergebnisse für die Schule angedacht – dass sich daraus zwei Ausstellungen entwickeln würden, war nicht vorgesehen. Diese Differenz zwischen Planung und Realisation erweist sich rückblickend als Stärke der Reihe, da sie dazu führte, dass auch nach Abschluss des eigentlichen Unterrichtsprojektes einzelne Schüler bzw. Gruppen weiter arbeiteten, bis sie den sich selbst gestellten Auftrag erfüllt hatten.

Auf lange Sicht von vorneherein angelegt ist das „Gedenkbuch Karlsruher Juden“, das im Karlsruher Stadtarchiv betreut wird. Hier forschen nicht nur Schüler und Jugendliche nach Biographien Vergessener, sie sind aber ausdrücklich als Autoren gesucht worden. Dabei ist das Ziel, den am 27. Januar 2001 enthüllten Gedenkstein für die ermordeten Juden auf dem Karlsruher Friedhof durch die diese etwa 1-3 Seiten langen Biographien gleichsam zu verlebendigen. Das Stadtarchiv stellt als fachkompetente Anlaufstelle für diese Spurensuche die ersten Hinweise auf Archivquellen bereit. Durch die Möglichkeit der Kontaktaufnahmen mit den Nachfahren der Ermordeten erhält dieses Projekt zudem dem eine aktuelle Perspektive (www.karlsruhe.de/Aktuell/Stadtzeitung02/sz0503.htm).

Eine private Quelle, das „Journal de mon séjour en Allemagne“, das Tagebuch eines belgischen Zwangsarbeiters, stellt die Grundlage für eine außer unterrichtliches Engagement von Schülerinnen und des Karlsruher Humboldt-Gymnasiums dar. Nach dem Besuch des Zeitzeugen in Deutschland erhielt die Gruppe die Erlaubnis, die mit Dokumenten, Fotos und eigenen Handzeichnungen angereicherten handschriftlichen Erinnerungen an die Zeit als Zwangsarbeiter in Karlsruhe und Stuttgart im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft „Geschichte im Archiv“ aufzuarbeiten sowie sie im französischen Urtext und einer deutschen Übersetzung zu veröffentlichen.

Die Biographie des Politikers und Juristen Gebhard Müller (1900-1990) stellten die Realschule und Gymnasium Mengen beispielhaft sowohl unter innenpolitischem Aspekt – „Mittler zwischen Baden und Württemberg“ – wie unter außenpolitischem Blickwinkel „Deutsche und Franzosen 1945-1963“ vor. Die Verknüpfung mit Unterrichtsinhalten konnte hier besonders deutlich herausgestellt werden, da die Entwicklung des Verhältnisses von Deutschen und Franzosen eines der wichtigen Themen der europäischen Nachkriegsgeschichte ist, dem im Bildungsplan Baden-Württemberg für das vierstündige Neigungsfach Geschichte ein besonderes Gewicht zukommt. Für die Präsentation war im regionalen Zeitungsarchiv und im Staatsarchiv Sigmaringen von den Schülern eigenständig recherchiert worden. Ebenso wie bei dem Mengener Projekt wird überlegt, die Präsentation unter Einhaltung datenschutzrechtlicher und urheberrechtlicher Bestimmungen im Internet zugänglich zu machen.

Die erfolgreiche Arbeit eigener Archivpädagogen an den Archiven war ablesbar an den vorgestellten Internetseiten des „Digitalen Archivs Marburg“ (www.digam.net/) beim Staatsarchiv Marburg. Hier werden archivische Quellen in ihren Zusammenhängen aufbereitet und sind dementsprechend nach Themen abrufbar. Das kommt den Bedürfnissen der Pädagogen entgegen, die in der Regel wenig Zeitressourcen haben, für den Unterricht zusätzliche regionale Materialien außerhalb der Schulbücher aufzuspüren und aufzuarbeiten. Neben dieser an den Quellen orientierten Strukturierung nach Themen soll künftig zudem eine an den Lehrplänen ausgerichteten Auswahl von Dokumenten angeboten werden.

Allgemeiner und in seinem Medienangebot breiter ist das Projekt SESAM des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg angelegt, in dem das LMZ neuartige Formen der Online-Verteilung von Medien erprobt. Die schulische Arbeit mit Medien wird dadurch wesentlich erleichtert und unterstützt. Basierend auf den neuen Bildungsstandards werden in SESAM Mediensammlungen zu bestimmten Themen (sogenannte „Themenbanken“) bereitgestellt, die als Quellen neben archivischen Unterlagen auch Filmsequenzen, Bilder, Arbeitsblätter und anderes didaktisches Material zu spezifischen Unterrichtsthemen enthalten.

Die Inhalte von SESAM stehen allen Lehrerinnen und Lehren in Baden-Württemberg online zur Verfügung und können jederzeit kostenlos herunter geladen und sowohl für die Unterrichtsvorbereitung als auch im Unterricht verwendet werden (http://sesam.lmz-bw.de/home/inhalte/uebersesam_7.htm).

Nachfrage bestand auch nach einer allgemeinen Informationsplattform zu „Archiv und Schule“. Zugriff auf alle von Archivpädagogen erarbeiteten Projekte sowie eine ausführliche, aktuelle thematisch strukturierte Literaturliste finden sich unter der Seite www.archivpaedagogen.de, die ebenfalls vorgestellt wurde.

Das Ziel der Organisatoren, so Clemens Rehm vom Generallandesarchiv Karlsruhe, Mut zur Archivarbeit zu machen und Lust auf Quellen zu vermitteln, um damit für Unterricht und Projekte Motivation zu schöpfen, sei bei der Tagung voll erfüllt worden. Die Diskussion anhand der Projekte habe eine große Bereitschaft zum Engagement von gezeigt und ließe ertragreiche Ergebnisse erhoffen, die über den schulischen Rahmen hinaus wirken könnten. Als Rahmen böte sich dabei besonders der am 1. September 2004 startende Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten an.

Verfasser: Dr. Clemens Rehm, Generallandesarchiv Karlsruhe (März 2004)

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