Genaue Zahlen gibt es nicht, aber auf etwa 200.000 wird die Zahl der Menschen geschätzt, die zwischen 1939 und 1945 sterben mussten, weil sie als „lebensunwert“ galten. Das Euthanasie-Programm der NS-Regierung hatte in diesen Jahren eines seiner Zentren in Nassau, wo allein in den drei Anstalten Hadamar, Eichberg und Kalmenhof über 20.000 Behinderte als „unnütze Esser“ umgebracht wurden. In Hadamar, wo dafür eigens eine Gaskammer eingerichtet worden war, starben innerhalb eines Jahres allein 10.000 Menschen jeglichen Alters den Gas-Tod.
Für diese unmenschliche Aktion, die unter dem Kürzel „T 4“ lief (weil der Beschluss zum Euthanasie-Programm in der Berliner Tiergartenstraße 4 gefasst wurde), waren indessen nicht nur Ärzte und Pfleger der psychiatrischen Krankenhäuser verantwortlich, sondern ebenso auch das dort tätige Verwaltungspersonal. Besonders aktiv zeigten sich dabei die im „Bezirksverband Nassau“ zusammengefassten Anstalten im Bereich Wiesbaden – in Hadamar, Kiedrich (Eichberg) und Idstein (Kalmenhof). Gesteuert wurde der Prozess vom Landeshaus am Kaiser-Friedrich-Ring aus, wo der seit 1867 bestehende Bezirksverband Nassau als preußischer Kommunalverband für den Regierungsbezirk Wiesbaden seinen Sitz hatte.
Der Landeswohlfahrtsverband Hessen, der 1953 an die Stelle des preußischen Kommunalverbandes trat und heute die durch die Euthanasie um ihren Ruf gebrachten Krankenhäuser rund um Wiesbaden verwaltet, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die düsteren Kapitel in der Geschichte seines Vorgängers, des „Bezirksverbands Nassau“, aufzuarbeiten, der Menschen zu gedenken, die in der Hitlerzeit als „Lebensunwerte“ liquidiert wurden, und auch die Schuld des Verwaltungspersonals zu ermitteln. Das bestand nicht nur aus engagierten und fanatisierten Parteigängern, die in die leitenden Positionen gesetzt wurden, sondern auch aus altgedienten mittleren und kleinen Mitarbeitern im Beamtenstatus.
Teil der Bemühungen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, der sich heute neben anderen Aufgaben um 53.000 Behinderte zu kümmern hat und mit einem Etat von 1,3 Milliarden Euro seinen Aufgaben gerecht werden muss, ist ein 788 Seiten starker wissenschaftlicher Textband, der unter dem nüchternen Titel „Verwaltung des Krankenmordes“ die Rolle des Bezirksverbands Nassau im Nationalsozialismus untersucht und darstellt. Autor der mit wissenschaftlicher Akribie aufgearbeiteten Studie, die sich vorwiegend auf Archivmaterial des Landeswohlfahrtsverbandes wie auch des Staatsarchivs stützt, ist der Historiker Peter Sandner. Er hat seine Arbeit am gestrigen Freitag im Hauptstaatsarchiv an der Mosbacher Straße in Wiesbaden vorgestellt. Sandner ist selbst im LWV-Archiv tätig und betreut darüber hinaus die zentrale Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie in Hadamar.
Warum gerade der Raum Wiesbaden ein Zentrum dieser Mordaktion war, findet seine Erklärung darin, dass hier besonders „tüchtige“ Verwaltungsbeamte erfolgreich bemüht waren, die finanziellen Defizite der psychiatrischen Anstalten des Kommunalverbandes abzubauen. Das erreichten sie, indem sie ihre Gaskammern und anderen Liquidierungstechniken nicht nur für die eigenen Patienten nutzten, sondern sie auch den Verantwortlichen der T 4-Aktion für auswärtige „Lebensunwerte“ anboten. Wovon dann so intensiv Gebrauch gemacht wurde, dass die Anstalten mit finanzieller Unterstützung aus Berlin ihre Defizite loswurden.
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Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 28.2.2004