Der Nachlass der NS-Partei

Der Andrang war so groß, daß Hitler nach der Machtübernahme eine mehrjährige Aufnahmesperre für die Partei verhängte. Und als im September 1944 auch Soldaten, denen eine politische Betätigung ausdrücklich verboten worden war, in die NSDAP durften, war die Parteileitung dem Ansturm nicht mehr gewachsen und stellte die Bearbeitung der Anträge „bis nach Kriegsende“ zurück. Insgesamt verfügte die NSDAP über zehn Millionen „Parteigenossen“, wenn man die vergebenen Mitgliedsnummern zugrunde legt.

Den Nachlaß der Partei erbeuteten die Vereinigten Staaten und hüteten ihn fast fünfzig Jahre lang im „Berlin Document Center“ (BDC). Ein 1967 unterbreitetes Angebot aus Washington, das BDC mittelfristig an die Bundesrepublik zu übergeben, wurde nur zögerlich aufgenommen. Erst während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt kam 1980 der Entwurf eines Regierungsabkommens zustande. Ende der achtziger Jahre, nachdem gestohlene Unterlagen bei Devotionalienhändlern und Trödlern aufgetaucht waren, wurde dann der Ruf nach einer Übergabe der Bestände in Politik und Wissenschaft vernehmlicher, bis der Bundestag im Frühjahr 1989 eine entsprechende Entschließung verabschiedete.

Im Zuge der Wiedervereinigung gingen die einst als hochbrisantes politisches Herrschaftsinstrument eingeschätzten „Beuteakten“ am 1. Juli 1994 in die Obhut des Bundesarchivs über – zu einem Zeitpunkt, als Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus im BDC keine „großen Geheimnisse“ mehr vermuteten und außerdem durch den Tod von Tätern aus dem „Dritten Reich“ und von Akteuren aus der frühen Bundesrepublik mit NSDAP-Hintergrund eine Art von „biologischer Entsorgung der deutschen Geschichte“ stattgefunden hatte. Vor zehn Jahren dachte niemand daran, daß vielleicht noch kleine Geheimnisse in den Millionen Karteikarten schlummerten und die – im wahrsten Sinne des Wortes – eine oder andere Partei-Jugendsünde einzelner Prominenter ans Tageslicht bringen könnten. Damals interessierte man sich gerade einmal für die Eintrittsmodalitäten des 1927 geborenen Hans-Dietrich Genscher, der bis 1992 an der Spitze des Auswärtigen Amts gestanden hatte.

Jüngst sind einige hochbetagte Germanisten von ihrer Biographie insofern eingeholt worden, als in den NSDAP-Mitgliederkarteien Spuren ihrer „Parteigenossen“-Existenz gefunden worden waren. Als der Herausgeber des „Internationalen Germanistenlexikons“ sie damit im Vorfeld der Publikation konfrontierte, präsentierten sich die Großen ihres Fachs ziemlich klein, indem sie den Wahrheitsgehalt der Unterlagen anzweifelten und rechtliche Schritte androhten. Davon ließen sich die aufgebrachten Emeriti immerhin abhalten durch ein Gutachten des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, das die Frage beantwortet, ob jemand ohne eigenes Zutun überhaupt Mitglied der NSDAP werden konnte. Der Befund ist eindeutig: Demnach sei „den im Bundesarchiv verwahrten Karten aus der Mitgliederkartei der NSDAP in jedem Fall ein individueller Antrag auf Mitgliedschaft in der Partei und dessen Genehmigung durch die regionalen und zentralen Parteiinstanzen vorausgegangen“. Laut NSDAP-Satzung erfolgte der Beitritt ordnungsgemäß erst „mit der Aushändigung der von der Reichsleitung ausgestellten Mitgliedskarte an den aufzunehmenden Volksgenossen“. Dazu sei es während der Kriegswirren „in vielen Fällen“ nicht mehr gekommen.

Nach Erscheinen des Lexikons meldete sich nun Walter Jens, der von seiner NSDAP-Mitgliedschaft bisher nichts gewußt haben will, und forderte ein „Obergutachten“ eines „neutralen Kenners“. Während der große Rhetoriker hinsichtlich seiner Parteimitgliedschaft mittlerweile kleinlauter geworden ist, ist ihm der Historiker Aly mit der These beigesprungen, daß im Gutachten nicht „auf die gravierenden nachträglichen Veränderungen“ der BDC-Karteien durch die amerikanische Besatzungsmacht hingewiesen worden sei – was den historischen Aussagewert „erheblich“ beeinträchtigen würde. Die längst bekannte Tatsache, daß die erhaltenen Teile der Ortsgruppenkarteien nachträglich zu einer Großkartei umsortiert wurden, während die Überreste der „Zentralkartei“ im ursprünglichen Zustand belassen wurden, soll nun den gesamten Wert der Quellen erschüttern, weil sich „besondere Eintrittswellen in einzelnen Orten zu bestimmten Zeiten“ nicht mehr rekonstruieren ließen.

Der aktenmäßig bisher nicht erhärtete Hinweis auf mehr oder weniger „von oben“ befohlene und vor allem formlos vollzogene Kollektiveintritte – von denen einzelne Zeitzeugen jetzt berichtet haben – zieht sich momentan durch eine Art zweite Entnazifizierung. Während es bei der ersten in den Nachkriegsjahren darauf ankam, aus existentiellen Gründen durch gegenseitige Reinwaschung mit „Persilscheinen“ weder als Hauptschuldiger noch als Nutznießer, noch als Minderbelasteter eingestuft zu werden, sondern nur als Mitläufer oder Entlasteter, geht es in der zweiten lediglich darum, die schon aufgrund ihres jugendlichen Alters von siebzehn oder achtzehn Jahren historisch unbelasteten „Parteigenossen“ als Zwangsmitglieder darzustellen, quasi durch Einführung neuer Kategorien von Unmündigen oder Unwissenden.

Statt endlich zu den schwierigen Anfängen der Lebensgeschichte, ja des demokratischen Lebenswerks zu stehen, wird von Miterlebenden weiterhin nach Ausflüchten gesucht. Dabei ist ganz offensichtlich: Je mehr sich die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in die Breite entwickelt und damit „nach unten“ auf den einzelnen konzentriert, desto deutlicher zeigt sich, daß jeder Deutsche irgendwie in das „Dritte Reich“ involviert war und viele – wenn sie denn nicht aus politischen oder rassischen Gründen aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt waren – trotz Terrors dem Regime etwas abgewinnen konnten. Jedenfalls bestand das deutsche Volk nicht zur einen Hälfte aus Widerstandskämpfern und zur anderen Hälfte aus Parteimitgliedern, die unwissentlich oder unwillentlich in der NSDAP waren.

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Quelle: Kommentar von Rainer Blasius, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.1.2004, Nr. 24, 1

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