Brennende Leichen im KZ, Kampfszenen in der Normandie, zerbombte deutsche Städte: Das britische Nationalarchiv veröffentlicht fünf Millionen Luftbilder aus dem Zweiten Weltkrieg im Internet – Dokumente des Schreckens, in ihrer Schärfe von beklemmender Wirkung.
Es war der 23. August 1944, als der Pilot an Bord der britischen Aufklärungsmaschine die deutschen Baracken in Polen überflog und der Auslöser seiner Kamera wie ein Maschinengewehr zu rattern begann. Es sollte fast 60 Jahre dauern, ehe die Bedeutung der Bilder erkannt wurde.
Eines der Fotos zeigt das Konzentrationslager von Auschwitz auf dem Höhepunkt des Vernichtungswahns. Auf dem Bild wälzt sich eine weiße Wolke über das Land. Sie stammt nach Angaben des Nationalarchivs aus einem Massengrab und nicht aus dem Schornstein eines Krematoriums. 1943 und 1944 wurden rund 430.000 ungarische Juden in Auschwitz ermordet – zu viele, um in den Verbrennungsöfen des Vernichtungslagers eingeäschert zu werden. Auf dem gestochen scharfen Foto sind sogar Häftlinge beim Zählappell zu erkennen.
Einzelne Menschen auf Luftbildern zu erkennen
„Die Bilder haben mich sehr bewegt“, sagt Allan Williams von den britischen Aerial Reconnaissance Archives an der Keele University. „Meines Wissens gibt es sonst keine Aufklärungsfotos von Auschwitz aus dieser Zeit.“ Warum das Foto erst jetzt entdeckt wurde, kann Williams nur vermuten. „Die Analysten achteten damals vielleicht zu einseitig auf militärisch Verwertbares.“
Williams führt ein Projekt an, das weltweit seinesgleichen sucht: Das britische Nationalarchiv stellt ab dem heutigen Montag auf einer eigens eingerichteten Internetseite fünf Millionen Luftaufnahmen vom Europa unter deutscher Besetzung bereit. Die Bilder zeigen neben Nazi-Gräueln auch die Landung der US-Truppen an der französischen Atlantikküste im Juni 1944 – so detailreich, dass im Wasser treibende Leichen zu erkennen sind.
Ein weiteres Bild zeigt das deutsche Schlachtschiff „Bismarck“, wie es sich im Mai 1941 in einem norwegischen Fjord versteckt – sieben Tage vor seiner Versenkung durch britische Streitkräfte. Auch die Zerstörung deutscher Städte wurde ausführlich dokumentiert, wie ein Foto von Köln zeigt, auf dem die durch alliierte Bomben völlig zerstörte Stadt am 18. Juni 1945 zu sehen ist.
Der Andrang auf die Webseite war so groß, dass sie auch am zweiten Tag nach dem Start praktisch nicht zu erreichen war. „Die Bilder erlauben uns, den wirklichen Krieg aus erster Hand zu begreifen“, sagt Williams. Die Fotos erzählen dramatische Geschichten und sind nicht selten auf ebenso dramatische Weise entstanden. Die Piloten überflogen in meist unbewaffneten Maschinen ihre Ziele allein und in geringer Höhe, um möglichst scharfe Bilder zu bekommen. Der britische Pilot Michael Suckling etwa überlebte sein für die Versenkung der „Bismarck“ entscheidendes Foto nur um einen Monat.
Schlüsselrolle für Spionagepiloten
Historiker Williams und seine Kollegen räumen den Aufklärungspiloten und den Foto-Analysten für den Ausgang des Kriegs eine ähnliche Bedeutung zu wie den Codeknackern von Bletchley Park, denen Anfang 1943 die Entschlüsselung der deutschen „Enigma“-Kodiermaschine und damit das Abhören des deutschen Funkverkehrs gelang. „Keine Offensive, weder ein Luftangriff, die Landung einiger Soldaten an einem Strand oder die Invasion einer ganzen Armee“ seien ohne die Auswertung des Bildmaterials möglich gewesen.
Ob das Auschwitz-Foto, wie die britische Zeitung „The Guardian“ schreibt, durch seine Veröffentlichung Hunderttausende von Leben hätte retten können, dürfte indes fraglich sein. London und Washington wussten nicht nur durch die entschlüsselte „Enigma“-Maschine schon seit Anfang 1943, was in Auschwitz geschah. Die Alliierten waren, wie der Freiburger Historiker Gerd Ueberschär 1999 belegen konnte, spätestens seit Februar 1943 durch den Ex-Diplomaten Jan Karski über den Massenmord an den Juden informiert.
In fünf Jahren 40 Millionen Bilder
Dennoch dürfte die Datenbank für Historiker allein wegen ihrer schieren Größe von unschätzbarem Wert sein. Auch für die Suche nach Blindgängern in Deutschland werden noch heute die Luftbilder der Alliierten benutzt, die kurz nach Bombenangriffen entstanden sind. „Die Bilder wurden schon vor Jahren freigegeben“, erklärt Williams. „Aber es dauerte Tage, um ein einzelnes Bild zu finden. Jetzt braucht man nur noch Sekunden.“
Künftig soll das Internet-Archiv weit mehr als die derzeit verfügbaren fünf Millionen Bilder enthalten. „Nach den Fotos des besetzten Westeuropas werden wir über zweieinhalb Millionen Bilder katalogisieren, die die deutsche Luftwaffe über Osteuropa geschossen hat“, betont Williams. In den nächsten fünf Jahren soll die Webseite Zugang zu mehr als 40 Millionen Luftbildern aus aller Welt seit 1938 bieten. „Am Ende werden Luftaufnahmen aller britischen Feldzüge von der Suezkrise über den Korea- und den Falklandkrieg bis hin zu den Golfkriegen der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.“
Link: http://www.evidenceincamera.co.uk/
Kontakt:
The National Archives (PRO)
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TW9 4DU
United Kingdom
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enquiry@nationalarchives.gov.uk
www.nationalarchives.gov.uk
Quelle: SPIEGEL Online, 19.1.2004