«Die Fotos sind so grossartig! Jetzt bist du Spezialist», schrieb Brecht 1947 aus Zürich an seine Mitarbeiterin und zeitweilige Geliebte Ruth Berlau nach New York. «Ich denke, ich mache Ende Januar etwas hier in der Schweiz, das musst du dann als Erstes in Europa aufnehmen.» Etwas, das war die «Antigone»-Aufführung nach Hölderlins Übersetzung am 15. Februar 1948 in Chur, mit einer erschütternden Helene Weigel als Antigone. Berlau kam, und ihre Szenenfotos werden zum ersten «Theatermodell» und Grundstock des Fotoarchivs des Berliner Ensembles, Brechts Ostberliner Hausmacht seit 1949. Inszenierung und Stück sollten eine streng formalisierte Einheit bilden, die reproduzierbar sein sollte auf verschiedenen Bühnen in verschiedenen Ländern, mit wechselnden Schauspielern und Regisseuren.
Da praktische Theaterarbeit weder durch patentamtliche Eigentumsansprüche noch durch Copyrights geschützt werden kann, legte Brecht höchsten Wert auf die exakte Dokumentation von Arbeitsvorgängen. Schon 1932 hatte er in Paris mit dem Fotografen Joseph Breitenbach zusammengearbeitet. Diese Aufgabe sollte nun Ruth Berlau übernehmen. Die Aufführung von Brechts «Galileo Galilei» 1947 am New Yorker Maxine Elliots Theatre mit Charles Laughton in der Hauptrolle war ihre erste Theaterarbeit mit Leica und Schmalfilmkamera. Vierundfünfzig Jahre später fand Grischa Meyer, Grafiker, Buchgestalter und Fotograf, im Berliner Brecht-Archiv neben den Theatermodellen 235 Mappen mit Rohabzügen der Fotos von Ruth Berlau, erkannte ihre gestalterische Qualität und fahndete in Privatarchiven nach weiteren Arbeiten.
Ihre Porträtserien von Max Frisch, Valeska Gert, Fritz Kortner oder Charly Chaplin, ihre impressionistischen Stadtbilder von Ostberlin und Kopenhagen lohnen die Wiederentdeckung in diesem schön gestalteten Buch. Als Porträtistin im Kreis deutscher Emigranten, als Beobachterin von New Yorker Strassenszenen und mit Sozialreportagen aus dem Hafenviertel hatte Berlau seit 1933 ein beachtliches Archiv künstlerischer Fotografie zusammengetragen. An der Dokumentation «Theaterarbeit» von 1952, in der sechs Aufführungen modellhaft analysiert wurden, hatte sie massgeblichen Anteil. Ruth Berlau wurde die «Fotografin an Brechts Seite». Was sie als Obsession verfolgte, seit die dänische Schauspielerin und Regisseurin dem Dichter ins Exil gefolgt war, wurde sie nicht: die Frau an seiner Seite. 1974 verbrennt Ruth Berlau in ihrem Krankenhausbett in Berlin.
Mit grossem Respekt rekonstruiert Grischa Meyer das Porträt einer mutigen, begabten Künstlerin. Er gibt ihr ein Werk zurück, das mit Brechts Tod 1955 in die Unsichtbarkeit entschwunden war. Sein klug zurückhaltender Essay entgeht der Bitterkeit, der den Ton der späten Selbstaussagen beherrscht, doch benennt er die Schwierigkeit, im Umkreis einer einnehmenden Genialität die Würde der eigenen Lebensleistung zu behaupten. Als enger Freund und Mitarbeiter von Heiner Müller hat Grischa Meyer viele Jahre am Berliner Ensemble gearbeitet und weiss, wovon er spricht. Aus den Verliesen der Brecht- Dämonen hat er eine lebendige Frau hervorgeholt, deren Kraft als Liebende ihrem stürmischen Temperament und ihrer Arbeitswut wohl nicht nachstand.
Info:
Grischa Meyer: Ruth Berlau. Fotografin an Brechts Seite.
Propyläen-Verlag, München 2003. 192 S., mit Abb., Fr. 65.50.
Quelle: NZZ, 13.11.2003