Schmal, lang und steil ist die Treppe, an deren Ende das Verbrechen wartet. Vom Dachgeschoss des Marburger Landgrafenhauses hat der Besucher nicht nur einen prächtigen Blick auf die Altstadt und das Kopfsteinpflaster. Von hier aus bietet sich neuerdings auch ein geradezu enzyklopädischer Einblick in die Monstrosität der menschlichen Natur: Ein gewaltiger Eisenschrank verwahrt auf 400 Filmrollen von je 30 Metern Länge rund 400 000 Seiten brisante Dokumente – Protokolle, Briefwechsel, Vermerke, Erlasse und Urteile gegen Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges mordeten, plünderten, massakrierten, vergewaltigten oder auf andere Weise Kriegsverbrechen verübten.
Die Materialien im Eisenschrank bilden den Grundstock für das derzeit wohl ehrgeizigste Projekt einer deutschen Hochschule: Am 1. August hat das „Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse“ seine Arbeit aufgenommen (Bericht). Sämtliche Prozesse, die weltweit gegen Deutsche und Japaner wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen geführt wurden, sollen in Marburg archiviert und ausgewertet werden. Die bereits vorliegenden 400.000 Seiten sind das Resultat einer fünfjährigen Pilotstudie. David Cohen von der University of California, Berkeley, und der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Dieter Simon, initiierten 1998 das am Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte angesiedelte Vorgängerprojekt. Angesichts von nur ein bis zwei Prozent der fünf- bis achttausend Verfahren, deren Akten bisher vorliegen, wollten Cohen und Simon Licht bringen in dieses dunkle Kapitel der globalen Erinnerungskultur. Das internationale Zentrum, zu dem sich die Initiative jetzt ausgewachsen hat, nennt Dieter Simon eine Sensation allerersten Ranges.
Der Nürnberger Prozess von 1945/46 und seine zwölf Nachfolgeprozesse sollten den Beginn einer neuen Sittlichkeit markieren. Hauptrichter Robert Jackson glaubte, nun sei die Weltbevölkerung endgültig davon überzeugt, „dass ein gerichtliches Verfahren diejenigen zur Rechenschaft ziehen soll, die in Zukunft in ähnlicher Weise die Zivilisation angreifen.“ Es ist anders gekommen. Vietnam, Ruanda, Srebenica waren nicht gerade Beweise für die Lernfähigkeit der Spezies Mensch. Doch immerhin, die Uno richtete Sondertribunale für Kriegsverbrechen ein, und als im November 1996 das erste Urteil gegen einen serbischen Soldaten gefällt wurde, beriefen sich die Richter ausdrücklich auf die Nürnberger Prozesse; Befehlsnotstand, erklärten sie, rechtfertige kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Marburger Zentrum will auf ähnliche Weise den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) mit Präjudizen versorgen. Der einzige deutsche Richter am ICC, Hans-Peter Kaul, wird sich Ende November in Marburg informieren.
Bis dahin haben sich vielleicht die 400 000 Seiten schon vermehrt. Diese sind das Resultat ausgedehnter Reisen, die David Cohen vor allem im asiatischen Raum unternommen hat. Die 72 Prozesse, die auf den Philippinen gegen japanische Soldaten stattfanden, sind deshalb vollständig erfasst und digitalisiert. Jene 296 Verfahren hingegen, die der australische Staat angestrengt hat, harren noch der Verfilmung. Insgesamt 21 Länder und damit auch 21 unterschiedliche Rechtskulturen gilt es zu bündeln. Arbeit genug für die Leiter des Marburger Zentrums, die Strafrechtler Henning Radtke und Dieter Rössner sowie die Politologen Theo Schiller und Wolfgang Form – zumal in einem zweiten Schritt auch nicht-deutsche und nicht-japanische Angeklagte in den Fokus rücken werden.
Die Utopie dahinter
Gemeinsam mit dem Dresdner Hannah-Arendt-Institut hat man sich des schwierigen Falles der Sowjetunion angenommen. 34.000 Verfahren gegen Kriegsgefangene haben dort bis 1950 stattgefunden, rund 60 Prozent dürften Straftaten vor Mai 1945 betreffen. Ergo schwankt die Zahl der sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse zwischen einigen hundert und mehreren tausend. Zwei mit Werkverträgen ausgestattete Historiker versuchen gerade in den russischen Archiven ihr Glück.
Was die Rechtsstaatlichkeit dieser Prozesse und damit ihre Bedeutung für die zukünftige Arbeit des ICC anbelangt, gibt sich der Jurist Radtke keinen Illusionen hin: „Es könnte sein, dass die Unterlagen aus Russland wie auch jene aus China nur historisch interessant sind.“ Wolfgang Form hält die Dokumente selbst dann für praktisch nutzbar, denn „wir brauchen auch eine Negativliste“, einen Kriterienkatalog, nach dem sich die Verfahrensgerechtigkeit oder aber die Staatswillkür bemisst.
In Europa triumphiert der Geist des Disparaten. Am besten erschlossen sind die polnischen Akten; exakt 1817 Deutsche hatten sich vor Gericht zu verantworten. Noch völlig ungeklärt ist die Situation in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Griechenland, den Niederlanden, der ehemaligen Tschechoslowakei und Ungarn. Dort fanden zwar Prozesse statt, doch über deren Zahl liegen keine Angaben vor. Zwei Sonderfälle sind Frankreich und Italien. In Paris stoßen die Forscher auf Granit. Man hält sich dort strikt an die gesetzliche Hundert-Jahres-Frist. Erst von 2045 an wäre demnach das Gros der Prozessakten frei zugänglich. Aus anderen Gründen ist die Arbeit in Italien sehr mühsam. Die Archive sind über das ganze Land verstreut, ein zentrales Register existiert nicht, und wer sich von Stadt zu Stadt durchfragen muss, stößt, so Cohen, nicht immer auf auskunftsfreudiges Personal.
Dass die Philipps-Universität den Zuschlag für das Dokumentationszentrum erhielt, dürfte den Erfahrungen im Umgang mit Massenakten geschuldet sein, die man durch ein vergleichbares Projekt gewonnen hat. Während der letzten fünf Jahre wurde im Landgrafenhaus die „politische NS-Strafjustiz in Hessen“ untersucht. „Hochverrat, Landesverrat, Wehrkraftzersetzung“ war der Titel des DFG-Projektes, dessen Abschlussbericht gerade fertiggestellt wurde. Theo Schiller leitete die interdisziplinäre Arbeitsgruppe, und er erhofft sich von der Arbeit im neuen Zentrum ähnlich frappierende Aufschlüsse über den Normenwandel: Sanken von Prozess zu Prozess die Hemmungen, ein Todesurteil auszusprechen? Wie viele dieser Höchststrafen wurden tatsächlich vollstreckt? Gab es, kulturell bedingt, unterschiedliche juristische Strategien?
Letztlich steht hinter dem Forschungs- und Dokumentationszentrum eine große Utopie – die Utopie, dass der Mensch auch in Krisenzeiten seine Mordlust bezwingen und dass dem im besten Sinne menschlichen Handeln vor Gericht dauerhaft Geltung verschafft werden kann. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist der unmittelbare Ausfluss dieser Utopie. Ihm zuzuarbeiten, ist folgerichtig neben der wissenschaftlichen Forschung der Hauptzweck des Marburger Zentrums. Eine neue, globale Sittlichkeit muss sich daraus nicht unbedingt ergeben; bisher waren, wie Henning Radtke skeptisch anmerkt, die Grundsätze der Menschlichkeit von Land zu Land, von Epoche zu Epoche sehr verschieden. Vielleicht bilden ja alle drei Millionen Seiten, die in wenigen Jahren komplett zusammengetragen sein sollen, die eine große Negativliste: ein Monument des Verwirkten, das immer wieder neu begriffen werden muss, um seiner Unheilsspur zu entkommen.
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 6.9.2003