Rund 50.000 Häftlinge, die das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebten, standen 1945 vor dem Nichts. Diesen, von den Alliierten so bezeichneten Displaced Persons (DPs), stellten die Briten in der Kaserne Hohne einen Aufenthaltsort. Seit Mai 1945 bis Anfang der 50er Jahre kamen rund 600 Juden in Celle in Wohnungen unter, oft Tür an Tür mit Celler Bürgern. Das Stadtarchiv Celle, die Celler Synagoge und die Gedenkstätte Bergen-Belsen rufen nun für Forschungszwecke Zeitzeugen auf, sich zu melden.
Etwa 60.000 Häftlinge aus allen von den Nationalsozialisten besetzten europäischen Staaten, davon die Hälfte Juden, befreiten die Briten am 15. April 1945 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen. In den ersten drei Monaten nach der Befreiung starben noch einmal 14.000 ehemalige Insassen an den Folgen der Haft. Die Überlebenden wurden in Kasernen untergebracht. Bergen-Belsen ist das einzige deutsche Konzentrationslager, in dessen unmittelbarer Nähe nach Kriegsende ein Lager für DPs, das Camp Hohne, wie es die Briten nannten, eingerichtet wurde. Mittelfristiges Ziel war die endgültige Rückführung der Zwangsverschleppten in ihre Heimatländer (Repatriierung). Für die meisten osteuropäischen Juden gab es keine Perspektive mehr im einstigen Heimatland. Die Alternative auswandern war nicht immer schnell zu realisieren.
In den Wochen nach der Befreiung gelingt es rund 600 Juden, allmählich in Celle in Privatwohnungen unterzukommen. Beweis hierfür ist eine Kartei aus dem Einwohnermeldeamt, die an das Stadtarchiv übergegangen ist. In ihr finden sich aufgelistet Adressen aus dem Stadtgebiet und den angrenzenden Stadtteilen Celles. „Wie die Juden den Kontakt zu den Cellern knüpften ist nicht überliefert“, sagt Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Die Sprache dürfte bei den überwiegend polnischen Juden mit guten Deutschkenntnissen kein Problem gewesen sein. „Die Frage ist nur, mit welchen Gefühlen die Celler den Juden begegnet sind, gegen die noch Monate vorher Hasstiraden geschürt wurden“, so Rahe.
Überliefert ist, mit welcher Energie die Juden versuchten, sich in Celle zu etablieren. Bereits im Juni 1945 gründete sich unter der Führung eines aus Polen stammenden Rabbiners, Israel Mojsze Olewski, eine jüdische Gemeinde mit anfangs 100, später mehreren hundert Personen. „Aber das ist kein Indikator für den Willen einer Eingliederung“, meint Rahe. Erklärtes Ziel sei immer die Auswanderung gewesen und nicht „im Land der Mörder“ zu bleiben. Wegen der Einwanderungsquoten, auch für Palästina, hätten die Juden oft jahrelange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen.
Obwohl Celle für fast alle nur eine Durchgangstation war, richteten sich die Ex-Häftlinge in ihrer neuen „Heimat“ ein: Allein bis Anfang der 50er wurden 31 Kinder von in Celle lebenden Juden geboren. Ein Zeichen für den ungeheuren Drang nach Zukunft, Familie und gesicherte Existenz. Außerdem wurden Gewerbe angemeldet, eine Lagerzeitung herausgebracht und ein jüdisches Komitee gefür Celle gründet.
Weitere Aufschlüsse über das Leben der Juden in Celle verspricht sich Rahe nun aus den Berichten von Zeitzeugen. Dafür, dass die Gedenkstätte den Aufruf erst jetzt startet hat Rahe eine Erklärung: „Wir haben erst 1987 mit der Arbeit begonnen und mussten zunächst eine Grundlage für die Forschung schaffen“, sagt er. „Das kostet Zeit und Geld.“ Erst seit drei Jahren stelle der Bund Mittel für Forschungsprojekte dieser Art zur Verfügung.
Zeitzeugen gesucht
Sabine Maehnert, Leiterin des Celler Stadtarchivs, und Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, bitten Zeitzeugen, die Juden nach der Befreiung aufgenommen haben oder anderweitig mit ihnen in der Zeit von 1945 bis Anfang der 50er in Celle in Kontakt gekommen ist, sich zu unter Telefon (05141) 936000 oder 9360010 sowie via Internet unter sabine.maehnert@celle.de zu melden. Rahe plant, zu Forschungszwecken ihre Erinnerungen von einem professionellen Videoteam in Bergen-Belsen aufzeichnen zu lassen. Mitarbeiter der Gedenkstätte bieten sich an, Zeitzeugen, die nicht mobil sind, abzuholen oder zu Hause zu besuchen.
Kontakt:
Stadtarchiv Celle
Westerceller Str. 4
29227 Celle
Tel. 05141/936 00 0
Fax 05141/936 00 29
stadtarchiv@celle.de
http://www.celle.de/kultur/archiv.htm
Quelle: Cellesche Zeitung, 7.8.2003