Aus dem Nationalmuseum in Bagdad wurden nicht 170.000 Exponate aus den Vitrinen sowie Gegenstände aus dem Archiv gestohlen, sondern 32 (in Worten: zweiunddreißig). Schuld an dieser grotesken Übertreibung war Donny George Youkhanna, Chef der Forschungsabteilung des Nationalmuseums und während des Krieges faktisch amtierender Direktor des Museums.
Mehr als 130 der 185 Angestellten der irakischen Antikenbehörde, berichtet Die WELT am 20.6. unter Rückgriff auf den Londoner Guardian, hätten nunmehr eine Petition unterschrieben, mit der der Rücktritt des Direktors Donny George gefordert wird. Zum einen heben sie darin hervor, viele der Diebstähle nach dem 8. April seien auf das Konto von Museumsleuten zu buchen. Dass sie wertvolle Stücke mit nach Hause genommen hätten, um sie vor Plünderern in Sicherheit zu bringen, sei lediglich eine Schutzbehauptung. Zum anderen aber wird Donny George vorgeworfen, er habe an die Angestellten Waffen verteilen lassen und sie aufgefordert, gegen die amerikanischen Truppen zu kämpfen.
George hat die Ausgabe von Waffen nicht bestritten, aber es sei nur geschehen, um das Museum vor möglichen Plünderungen zu schützen. Auf die Amerikaner hätten lediglich einige „Fedayin“ vom Museumsgelände aus geschossen, hatte er Ende Mai in Bonn bei der Tagung „Archäologie im Niemandsland“ in einem Nebensatz erwähnt. Zugleich betont der Direktor, der seit 26 Jahren an führender Stelle im Museum tätig ist und über die Jahre Mitglied der herrschenden Baath-Partei war, er sei keineswegs ein hoher Funktionär gewesen. Die Partei hätte er jedoch nicht verlassen können, weil damit erhebliche Schwierigkeiten im Museum wie im Privatleben verbunden gewesen wären.
Damit rückt eine Person ins Zwielicht, die bislang als einer der Hauptzeugen für die Anklagen gegen die Amerikaner wegen ihrer Untätigkeit beim Schutz des Museums galt – nicht zuletzt bei Unesco-Tagungen in London und Bonn. Wiederholt berichtete George von jenem Engländer, der ihn wissen ließ, er warte nur darauf, dass die Amerikaner in Bagdad einmarschierten, weil er sich dann aus dem Nationalmuseum bestimmte Stücke holen könne. Das sei dann, von den Amerikanern geduldet oder gar gefördert, tatsächlich geschehen. In Bonn sagte George, er habe das bereits in dem Jahr vor dem Krieg zufällig in einem Restaurant in London gehört. Bei einem Vortrag in Essen erklärte er dagegen, ihm sei dieser Raub in einer anonymen E-mail angekündigt worden.
Inzwischen bleiben allerdings nur wenige Objekte übrig, die damit gemeint sein könnten. Denn die Verlustliste wird immer kleiner, nachdem nun auch die Nr. 1, die Vase von Uruk/Warka dem Museum zurückgegeben wurde. Vor allem aber, weil die Kommission, der die Bestandsaufnahme der Schäden und Verluste obliegt, inzwischen zahlreiche Depots ausfindig machen konnte. So fand sich der Goldschatz von Nimrud, der 1988/90 ausgegraben worden war, in einem überfluteten Tunnel unter der Nationalbank. In einem anderen geheimen unterirdischen Gewölbe entdeckte man 179 Kisten mit bedeutenden Objekten aus dem Museum. Das Versteck war den Museumsbeamten bekannt, aber sie hatten es verschwiegen.
Auch der Direktor des Museums hat nichts dazu beigetragen, dass diese Bergungsorte entdeckt wurden. Ihm kam es offensichtlich darauf an, die Amerikaner, die auf eine Sicherung des Museums in den ersten Tagen der Besetzung Bagdads zunächst verzichtet hatten, ins schlechte Licht zu rücken. Unausgesprochen blieb, dass der größte Teil der Museumsbestände bereits vor dem Krieg in Depots gebracht worden war, und die – oft fotografierten – leeren Vitrinen im Museum nicht unbedingt von der Anwesenheit von Plünderern zeugten.
Statt dessen hatte Donny George in den ersten Kriegstagen die Zahl von 170.000 Museumsobjekten genannt, die schnell als Verlustzahl um die Welt ging. Tatsächlich handelt es sich um alle inventarisierten Stücke, nicht um die verschwundenen. George hat wenig dazu getan, diesen Irrtum zu korrigieren. Auch redete er nicht darüber, was lange und unmittelbar vor dem Krieg außerhalb des Museums in Sicherheit gebracht worden war. Statt dessen half er, den Eindruck zu erwecken, wesentliche Teile des kulturellen Erbes der Iraker – wie der Menschheit überhaupt – seien aufgrund amerikanischer Indolenz verloren gegangen. Dieser Tenor wurde von vielen aufgenommen und verbreitet, auch und gerade von der akademischen Zunft der Archäologen und Orientalisten.
Deshalb stellt sich zum einen die Frage, wie es um die kulturelle Identität der Iraker, die sich angeblich vor allem anhand der reichen Museumsschätze aus der Vergangenheit des Zweistromlandes definierte, stand, wenn der Großteil dieser Schätze „gesichert“, aber nicht zu sehen war – und der Schatz von Nimrud bislang nur im Verborgenen existierte? Zum anderen aber, ob da vielleicht Gefühle der Leichtgläubigkeit – und der weltweiten Desinformation als Folge – den Vorwurf gegen die Amerikaner beförderten?
Quelle: Die WELT, 20.6.2003