Im März 2012 wurde mit einem Festakt im Landeskirchenamt Kassel „50 Jahre Pfarrerinnen in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck“ gefeiert. Das Landeskirchliche Archiv Kassel steuerte eine Ausstellung mit Katalog bei: Bettina Wischhöfer, Pfarrhelferin, Vikarin, Pfarrerin – Theologinnen in Kurhessen-Waldeck (Schriften und Medien des Landeskirchlichen Archivs Kassel 31), Kassel 2012.
Im Vorfeld fand ein langes, aufschlussreiches Zeitzeugengespräch mit Landespfarrerin i.R. Dietgard Meyer statt. Frau Meyer, die am 14. August 2022 ihren hundertsten Geburtstag feiert, hat dem Landeskirchlichen Archiv Kassel mit ihrem Vorlass wichtige Unterlagen und private Fotos zur Geschichte der Frauenordination, die sie maßgeblich miterlebt und geprägt hat, zur Verfügung gestellt.
Abb.: Dietgard Meyer betrachtet amüsiert ihr Biogramm in der Ausstellung „50 Jahre Pfarrerinnen“ im Landeskirchenamt 2012 (Foto: Wischhöfer).
Die Vorgeschichte
1908 erlangen Frauen in Preußen das Recht auf Zulassung zum Studium. Eine erste Interessenvertretung von Theologinnen manifestiert sich 1925 mit der Gründung des Verbands evangelischer Theologinnen in Marburg.
Die Theologin als Pfarrhelferin, Einsatz von Vikarinnen in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit
Die Kirchenregierung der evangelischen Landeskirche in Hessen-Kassel definiert Vorbildung und Anstellung von Theologinnen in einem Beschluss von 1931 und einer Verordnung von 1932. Anzustellen sind Pfarrhelferinnen zur Unterstützung des Pfarramtes, bei Verheiratung scheidet die Pfarrhelferin aus.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 ändert sich die Lage. Durch die Einberufung vieler Pfarrer zum Kriegsdienst sind viele Kirchengemeinden verwaist – „weibliche Hilfskräfte für den Gemeindedienst“ werden bis in die unmittelbare Nachkriegszeit eingesetzt. Die Vikarinnen Bader, Doemich, Rühling und Staritz springen ein und übernehmen oft den gesamten Pfarrdienst.
Das Amt der Vikarin ab 1949
Nach Kriegsende diskutiert die Leitung der Landeskirche die Rechtsstellung der Vikarinnen neu. Gibt es 1947 fünf Vikarinnen in Kurhessen-Waldeck, wird der Bedarf 1948 für die nächsten fünf Jahre auf lediglich „zwei Theologinnen“ geschätzt. Kurhessen-Waldeck liegt hier im Trend, EKD-weit ist bis auf Württemberg, Pfalz und Berlin-Brandenburg kaum oder kein Bedarf vorhanden. Das Kirchengesetz über das Amt der Vikarinnen regelt 1949 in Kurhessen-Waldeck grundsätzliche Fragen. Der Dienst wird vornehmlich gegenüber Frauen und Kindern ausgeübt. Mit der Ordination wird der Vikarin grundsätzlich das Recht der Sakramentsverwaltung im Rahmen ihres Dienstes gewährt. Bei Heirat scheidet die Vikarin aus dem Amt aus.
Ordinationen von Vikarinnen finden ab 1952 in Kurhessen-Waldeck statt. Acht Ordinationen von Vikarinnen konnten bis 1961 für Kurhessen-Waldeck nachgewiesen werden, nicht alle, die qualifiziert waren, im Krieg eingesprungen sind und ordiniert werden wollten, kamen in den Genuss einer Ordination. Nicht selten wurde die Ordination hinausgezögert. Das Vikarinnen-Amt wird als Amt sui generis verstanden – Vikarinnen sind kein „weiblichen Pfarrer“ und können daher auch keine besoldungsrechtliche Gleichstellung mit den Pfarrern aus dem Grundgesetz ableiten. In Kurhessen-Waldeck erhalten die Vikarinnen 80 Prozent des Pfarrergehalts.
Das Weltbild der männlichen Vorgesetzten den Vikarinnen gegenüber ist 1954 klar geordnet: „Fräulein F. scheint mit einer Vikarin befreundet zu sein, die in Baden Dienst tut und die ihr nun irgendwie davon erzählte, dass sie als „Frau“ angesprochen wird, eine eigene Wohnung hat und wie ein Pfarrer frei schaltet und waltet. Das steht ihr nun etwas vor Augen und im übrigen ist sie Ihnen gram, weil Sie irgendwie eine Äußerung gemacht haben sollen, dass Vikarinnen-Probleme am besten durch die Ehe zu lösen seien.“
1958 sind neben vier Sprengelvikarinnen zeitweise weitere fünf Vikarinnen in der Landeskirche tätig. Die Frage der verbindlichen Form der Amtstracht für Vikarinnen ist noch offen. Auf eine Anfrage von Vertrauensvikarin Meyer empfiehlt Prälat Hilmes „bis zur Regelung dieser Frage ein dunkles Kleid“. 1959 gibt dann die Dienstkleidung für Vikarinnen in Kurhessen-Waldeck: Statt des Beffchens trägt die Vikarin „hemdblusenähnliche Ecken (Überschläge) zum Einknöpfen…“
Der Zeitungsbericht über Vikarin Fuchslocher „Nach acht Semestern „Frau Vikarin“ – Jugendstunden und Krankenbesuche spiegelt exemplarisch das Amt. Ihr Alltag ist geprägt durch die Krankenhausseelsorge an Frauen und Kindern in fünf Kliniken, den sie mithilfe eines Dienstfahrzeugs (Goggomobil) besser bewältigt.
Das Amt der Pfarrerin ab 1962
Ende 1959 gibt es in vier evangelischen Landeskirchen gesetzlich festgelegt „Pfarrerinnen“ bzw. „Pastorinnen“, die in vollem Pfarramt tätig sind: Lübeck, Anhalt, Pfalz und Hessen-Nassau. Die Besoldung ist – unabhängig von der Bezeichnung – bereits in zehn Landeskirchen angeglichen. Die Vertrauensvikarinnen aus den Landeskirchen der EKD, hier vertritt Dietgard Meyer Kurhessen-Waldeck, diskutieren schon seit längerem die „Theologinnenfrage“ und das sich langsam wandelnde Berufsbild. Die Broschüre „Die Vikarin“ solle neu aufgelegt werden und brauche einen neuen Titel, etwa „Die Pastorin“, so das Protokoll ihrer Tagung 1960 in Berlin-Spandau. Die nächste Vikarinnentagung wird unter dem Thema „Ehe und Ehelosigkeit der Theologin“ stehen. Der Vikarinnen-Ausschuß in Kurhessen-Waldeck mit „Frau Pfarrer Stehfen“ und Pfarrvikarin Meyer ist u.a. 1961 auf landeskirchlicher Ebene tätig. Es geht um die grundsätzliche Frage, ob die Landeskirche eine qualitative Gleichstellung des Pfarramts der Frau mit dem Pfarramt des Mannes anstrebt. So lehnt Kirchenrat Dr. Ritter kategorisch ab, sich von einer Frau das Abendmahl reichen zu lassen. Bei diesem Entschluß bleibe er auch in seiner Sterbestunde, er würde „dann leider auf das Abendmahl verzichten“. Anfang Dezember 1961 berät die Landessynode in Hephata die Vorlage für das Kirchengesetz über das Amt der Pfarrerin. Am Vorabend der Synode schreibt Vikarin Claudia Bader an Vikarin Dietgard Meyer: „Nun ist also morgen der entscheidende Tag für uns alle“. Sie spricht von einem „Kampf“, den sie nicht gesucht habe, als sie das Studium ergriffen habe. Obwohl Synodaler Ritter noch einmal ausführlich den „Gleichheitswahn der französischen Revolution, der in bedenklicher Weise auch in kirchlichen Gehirnen spuke“, anprangert, wird es ein „guter Tag“. Die Landessynode beschließt am 8. Dezember 1961 das Kirchengesetz über das Amt der Pfarrerin, das am 1. Januar 1962 in Kraft tritt. Wie ihre männlichen Kollegen werden Frauen nach einer entsprechenden Ausbildung nun zu Pfarrerinnen ordiniert und haben die Möglichkeit, ein Gemeindepfarramt zu übernehmen.
Die erste Ordination von Frauen zu Pfarrerinnen findet am 1. April 1962 in Wolfhagen gemeinsam mit fünf männlichen Kollegen statt. Die erste Frau, die im Juni 1962 in Kurhessen-Waldeck in ein Gemeindepfarramt eingeführt wird, ist Pfarrerin Specht in Hanau. Als erste Landespfarrerin wird im November 1963 Dietgard Meyer eingeführt.
Es sollte noch dreißig Jahre dauern, bis in jeder Hinsicht die volle Gleichstellung erreicht war.
Fünf Tage im Dezember 1961 – Vorlage, Lesung und Abstimmung Kirchengesetz über das Amt der Pfarrerin auf der Landessynode zu Treysa-Hephata
Am 4. Dezember 1961 schreibt Claudia Bader (1900-1974), ordinierte Theologin wie Dietgard Meyer und zu diesem Zeitpunkt Sprengelvikarin im Sprengel Marburg, an ihre Kollegin und Freundin Dietgard:
Abb.: Landeskirchliches Archiv Kassel, Bestand H Vorlass Dietgard Meyer Nr. 18 (Briefwechsel mit Claudia Bader).
Transkription:
M[ar]b[ur]g 4. Dez[ember] [19]61
Liebe Dietgard,
nun ist also morgen der „entscheidende Tag“ für uns alle auf dem harten Wege all der Jahre, die soviel & unnötige Kraft von uns gefordert haben, die anders besser angewandt worden wären. Aber wir haben ja diesen Kampf nicht gesucht, als wir das Studium ergriffen! – Ob es ein „guter Tag“ wird? Ob´s uns ein Stück dem Ziele näher bringt? Oder ob es zu einer Notlösung kommt? – Wir wollen´ s Gott befehlen. 3 meiner Gemeindeglieder, 3 meiner treusten wollen morgen – statt meiner zur Sitzung nach Treysa fahren und nehmen diesen Gruß mit. Ich hörte gern zu als Mäuschen“! – aber mein Tag ist voll besetzt, und es ist besser, wenn ich unsichtbar bleibe! – Grüßen Sie alle, die ich kenne dort. Ritter sah ich heute mit Köfferchen abreisen, aber er sah mich nicht! Wie wird er sich verhalten?
[… Ihre Claudia
Hoffentlich geht unsere Sache morgen wirklich „über die Bühne“? Hoffentlich!]
Am 8. Dezember 1961 weist der Vorsitzende der Synode, Oberamtsrichter Hans-Hartmann Freiherr von Schlotheim (Hofgeismar) darauf hin, dass mit Beginn der Dritten Lesung des Kirchengesetzes über das Amt der Pfarrerin nur noch zu der Vorlage als Ganzes gesprochen werden kann. Als erster ergreift Synodaler Kirchenrat D. Dr. Karl-Bernhard Ritter (Marburg) das Wort (Audio). Der Theologe lehnt die Einführung der Frauenordination entschieden ab.
Es folgt eine Stellungnahme von Bischof Wüstemann (Audio), der den vorliegenden Gesetzentwurf verteidigt.
Für die Frauenordination spricht Synodale Elisabeth Stehfen (Kassel) (Audio), Theologin und mit der Leitung des Amtes für kirchliche Frauenarbeit betraut.
Danach stellt der Vorsitzende das Gesetz über das Amt der Pfarrerin zur Abstimmung. Es wird mit 51 Stimmen bei 7 Neinstimmen und 2 Enthaltungen angenommen. (Audio)
Das Gesetz trat zum 1. Januar 1962 in Kraft. Die Amtseinführung von Claudia Bader in eine Gemeinde fand im Dezember 1962 in Marburg statt. Dietgard Meyer wurde 1963 zur ersten Landespfarrerin für kirchliche Frauenarbeit ernannt.
Landeskirchliches Archiv Kassel, AB 17 / 61, Verhandlungen der 2. Ordentlichen Tagung der 3. Landesynode der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck von Montag, den 4. Dezember bis Freitag, den 8. Dezember 1961 zu Treysa-Hephata. – Elfte Öffentliche Sitzung, Freitag, 8.12.1961, vormittags: Dritte Lesung des Kirchengesetzes über das Amt der Pfarrerin, S. 127 – 132. Die Tonbandaufnahmen der Synode konnten 2018 in das Archiv übernommen werden. Die vier Audio-Dateien geben den Verlauf der Dritten Lesung fast vollständig wieder.
Vita Dietgard Meyer
Dietgard Meyer, am 14. August 1922 in Berlin-Wilmersdorf geboren als Tochter eines Ministerialrats, begann 1945/46 ein Studium der Theologie und Jurisprudenz in Heidelberg. Nebenbei fertigte sie Übersetzungen und Schreibarbeiten bei und für Theodor Heuss und Hermann Maas. 1946/47 setzte sie das Theologiestudium in Göttingen fort. 1947 wirkte sie dort als Sozialreferentin im Asta und Asta-Vorsitzende. Sie studierte weiter in Marburg und Basel (Stipendium durch Karl Barth) und legte 1951 das Fakultätsexamen in Göttingen ab.
1953 absolvierte Meyer das Vikariat bei Dekan Karl Wessendorft (Hanau). Im September 1953 legte sie das Zweite Theologische Examen als Externe in Hofgeismar ab. Nach Hilfsvikarinnen-Tätigkeiten im Sprengel Hanau und im Sprengel Kassel wurde Meyer am 16. November 1955 in der Karlskirche in Kassel ordiniert. Ihr wurde die Stelle einer Vikarin im Sprengel Kassel verliehen.
1958 wurde sie Vertrauensvikarin in der EKKW gewählt, später zur Vertrauenspfarrerin für den Theologinnenkonvent (bis1968). 1960 erhielt Meyer eine Berufung durch den Rat der Landeskirche in die Theologische Kammer. 1964 bat sie darum, die Berufung zurückzunehmen wegen im Amt für kirchliche Frauenarbeit eingetretener zusätzlicher Belastungen.
1963 wurde Meyer zur Landespfarrerin für kirchliche Frauenarbeit ernannt. Von 1974 bis 1978 wirkte sie als Vorsitzende das Pfarrerausschusses im Sprengel Kassel. 1982 trat sie in den Ruhestand.
Die Geschichte der Frauenordination, die sie miterlebt und geprägt hat, ließ sie nie los. So gab sie 1999 zusammen mit Hannelore Erhart und Ilse Meseberg-Haubold einen ersten Dokumentenband über die Theologin und Pfarrerin Katharina Staritz heraus, der die Jahre 1903 bis 1942 umfasste. Band 2, herausgegeben von Ilse Meseberg-Haubold und Dietgard Meyer, dokumentiert die Jahre 1943 bis 1953 und erscheint pünktlich zum 100. Geburtstag von Dietgard Meyer.
(Bettina Wischhöfer)
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