Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen im Kanton Nidwalden

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für Aufarbeitung von unrühmlichem Kapitel gesucht.

Der Kanton Nidwalden hat zusammen mit den Gemeinden und Landeskirchen das Forschungsprojekt für die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangs­­maßnahmen vor 1981 gestartet. Die Projektleitung ist der Universität Bern übertragen worden. Von essentiellem Wert werden Interviews mit Betroffenen sein, die damals unter den Maßnahmen gelitten haben.


Abb.: Armutsbetroffene Menschen wurden häufig in lokale Armenhäuser eingewiesen, wie hier im Bild das Fürsorgeheim Alpenblick in Hergiswil in den 1930er-Jahren. Auch uneheliche Mütter und ihre Kinder waren von Zwangsmaßnahmen betroffen. (Bildquelle: „Die katholischen Anstalten der Schweiz“ von Wilhelm Kissling).

Das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) ist seit 1. April 2017 in Kraft. Es sieht unter anderem die Auszahlung eines Solidaritätsbeitrages an Opfer von solchen Maßnahmen vor. Gesuche um Solidaritätsbeiträge müssen direkt ans Bundesamt für Justiz gerichtet werden. – Die Schweiz und viele Kantone bringen seither Licht in ein dunkles Kapitel der Sozialgeschichte. Es geht um die Schicksale von Menschen, die vor 1981 von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen waren. Die Maßnahmen wurden oft gegen deren Willen angeordnet, ohne dass man ihnen Rechtsmittel zugestand. Viele leiden heute noch unter der erfahrenen Ungerechtigkeit und der oft schlechten Behandlung in Heimen, Anstalten oder fremden Familien. Anhand von Gesuchen für die Einsicht in entsprechende Dossiers im Staatsarchiv Nidwalden ist bekannt, dass es auch in Nidwalden bei fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen zu willkürlichen Entscheiden, zu Mißbrauch und Gewalt gekommen ist. Jedoch fehlen bisher ein Überblick und das Wissen über konkrete Zusammenhänge.

Der Kanton Nidwalden hat deshalb ein entsprechendes Forschungsprojekt lanciert, nachdem der Landrat einen Kredit von 360.000 Franken bewilligt hat. An den Kosten des Forschungsprojektes an der Universität Bern beteiligen sich auch alle Politischen Gemeinden und die beiden Landeskirchen. Es wird eine fundierte historische Aufarbeitung angestrebt. Als Resultat daraus wird voraussichtlich im Herbst 2024 eine Publikation herausgegeben, die sich in erster Linie an ein regionales Publikum richtet. Als Verlagspartner für die Buchveröffentlichung konnte der Historische Verein Nidwalden (HVN) gewonnen werden.

Fundament für die Forschungsarbeit und die angesprochene Publikation bilden einerseits die Verwaltungsakten im Staatsarchiv Nidwalden und die Dokumente in den Archiven der Gemeinden und Kirchen, andererseits Interviews mit Betroffenen des damaligen Regimes. Der Kanton ist daher auf der Suche nach Zeitzeugen, die bereit sind, über das Leid, welches ihnen unter den Zwangsmaßnahmen in Nidwalden widerfahren ist, zu sprechen. „Wer sich als Interviewpartner zur Verfügung stellt, kann einen Beitrag leisten, das damalige Unrecht zu benennen. Dies dient auch dem Projektziel: Dass das erlittene Leid im Bewusstsein der Gesellschaft bleibt und sich solches Unrecht nicht wiederholt“, hält Gesundheits- und Sozialdirektorin Michèle Blöchliger fest. Betroffene brauchen unter Umständen sehr viel Überwindung, von den Geschehnissen aus dieser Zeit zu berichten. „Ihre Erinnerungen sind aber von unschätzbarem Wert, um die Geschichte genau aufzuarbeiten“, fügt Michèle Blöchliger an. Personen, die sich als Interviewpartner melden, können selber entscheiden, ob sie ihren Namen zu Forschungszwecken zur Verfügung stellen oder anonym bleiben wollen. Die Interviews werden vom Projekt- und Autorenteam durchgeführt, das von Sonja Matter von der Universität Bern geleitet wird. Die gebürtige Engelbergerin ist bereits für Recherchen im Zusammenhang mit der Kantonsgeschichte Nidwaldens tätig gewesen und mit dem Forschungsthema eng vertraut.

Projektorganisation ist breit abgestützt
Sonja Matter ist in beratender Funktion auch Mitglied der Projektsteuerung, welcher Regierungsrätin Michèle Blöchliger vorsteht. Dem Gremium gehören weiter die Oberdorfer Gemeindepräsidentin Judith Odermatt Fallegger, Monika Rebhan Blättler, Präsidentin der Römisch-Katholischen Landeskirche Nidwalden, Brigitt Flüeler, Präsidentin des Historischen Vereins Nidwalden, Staatsarchivar Emil Weber sowie Andreas Scheuber, Direktionssekretär der Gesundheits- und Sozialdirektion Nidwalden, an. Für die fachliche Projektbegleitung ist ein wissenschaftlicher Beirat mit Historikerin Loretta Seglias – sie hat zum Thema viel Forschung auf nationaler Ebene betrieben – sowie Franziska Thurnherr (Gesundheits- und Sozialdirektion), Christoph Baumgartner (Staatsarchiv Nidwalden) und Karin Schleifer (HVN), alle mit Erfahrung in wissenschaftlicher Forschungsarbeit, gebildet worden. „Mit dieser breit abgestützten Projektorganisation ist gewährleistet, dass alle relevanten Aspekte und Sichtweisen in das Forschungsprojekt einfliessen und das Projektteam begleitende Unterstützung erhält“, sagt Staatsarchivar Emil Weber.

Betroffene Zeitzeugen, die bereit sind, ihre Geschichte im Rahmen der Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen im Kanton Nidwalden vor 1981 zu erzählen, melden sich idealerweise bis zum 15. Mai 2022 beim Staatsarchiv Nidwalden unter Telefon +41 41 618 51 51 oder staatsarchiv@nw.ch. Die Namen werden vertraulich behandelt. Das Recht von Zeitzeugen, auf Wunsch anonym zu bleiben, wird gewahrt.

Kontakt:
Staatsarchiv Nidwalden
Stansstaderstrasse 54
Postfach 1251
6371 Stans
Telefon +41 41 618 51 51
staatsarchiv@nw.ch
https://www.nw.ch/staatsarchiv/116

Quelle: Kanton Nidwalden, Medienmitteilung, 6.4.2022; Kanton Bern: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen, o.D.

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