Aufarbeitung, Erinnerung und Opferfürsorge im digitalen Aufbruch.
Ein Koalitionsvertrag bietet einen Überblick über das Regierungsprogramm und über die wichtigsten Vorhaben der künftigen Regierung. Gute Koalitionsverträge mit konkreten Politikversprechen zu verhandeln, das lohne sich für die Politikgestaltung der Koalitionäre wie für das öffentliche Vertrauen in die Regierung, urteilt die Bertelsmann-Stiftung. Die Umsetzung der Koalitionsverträge erhöhe die Glaubwürdigkeit; von daher seien sie ein wichtiges und chancenreiches Instrument für Verbindlichkeit und Rechenschaft auch gegenüber den Wählerinnen und Wählern.
Parteien und Regierungen seien überdies besser als ihr Ruf, was auch für die bisherige Große Koalition gelte, so die Bertelsmann-Stiftung in ihrer Schlussbilanz zum Koalitionsvertrag der GroKo 2018-2021 unter dem Titel „Versprechen gehalten“. Von den insgesamt 294 Versprechen des Koalitionsvertrages 2018 wurden, wie zuvor bereits, fast 80 Prozent ganz oder teilweise umgesetzt. Die Regierung habe weitgehend das getan, was sie zuvor versprochen hat. Die offenbar guten Vertrauenswerte zur Umsetzungstreue von Koalitionsverträgen seien daher auch eine „Chance für die neue Regierung“.
Nach rund einmonatigen Verhandlungen haben nunmehr SPD, Grüne und FDP ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Die Ampel-Parteien präsentierten das 177 Seiten starke Dokument mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ am 24.11.2021 der Öffentlichkeit. Die neue Regierung wird aus 17 Ministerien bestehen (neu ist ein Ressort für Bauen). Es wird kein eigenes Digitalministerium geben, das aber künftig zum Verkehrsressort gehört.
Im Ampel-Koalitionsvertrag für die Jahre 2021 bis 2025 werden verschiedene Ziele ausgegeben; das Inhaltsverzeichnis führt sieben Themenbereiche auf, neben Klimaschutz, Arbeitswelt, Bildung und Europa im Kapitel „Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie“ auch den Abschnitt „Kultur- und Medienpolitik“ (S. 121-127). Kultur solle in ihrer Vielfalt als Staatsziel verankert werden. Die Neustart-Programme werden zunächst fortgeführt, um den Übergang nach der Pandemie abzusichern. Die neue Regierung wird die Kulturstiftung des Bundes und den Bundeskulturfonds ausbauen. Man werde ein „Kompetenzzentrum für digitale Kultur“ schaffen, das Kulturakteurinnen und Akteure berät, vernetzt und qualifiziert. Die Koalition fördert den Aufbau eines „Datenraums Kultur“, der sparten- und länderübergreifend Zugang zu Kultur ermöglicht. Zur Kulturförderung gehöre zudem, öffentliche Bibliotheken „als dritte Orte“ zu stärken und Sonntagsöffnungen zu ermöglichen (S. 122). Bibliotheken sollen, wie Kultur und Sport insgesamt, zur „Stärkung des Zusammenhalts“ von unbürokratischen und ausgeweiteten Investitions- und Sanierungsprogrammen profitieren (S. 128). Museen werden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt.
Ausführlicher wird der Koalitionsvertrag beim Thema „Filmerbe“: „Mit der Filmförderungsnovelle wollen wir die Filmförderinstrumente des Bundes und die Rahmenbedingungen des Filmmarktes neu ordnen, vereinfachen und transparenter machen, in enger Abstimmung mit der Filmbranche und den Ländern. Wir prüfen die Einführung von Investitionsverpflichtungen und steuerlichen Anreizmodellen und schaffen gesetzliche Rahmenbedingungen, um die steuerliche Behandlung von Filmkoproduktionen rechtssicher zu gestalten. Kinos und Festivals fördern wir verlässlich und bewahren unser nationales Filmerbe“ (S. 123). – Dass die Filmförderungsnovelle als vermeintliche „Spitzenförderung“ unter Filmemachern nicht unumstritten ist, wird den Koalitionären bewusst sein.
Hinsichtlich des Urheberrechts will sich die Regierung für „fairen Interessenausgleich“ einsetzen und die Vergütungssituation für kreative und journalistische Inhalte, auch in digitalen Märkten, verbessern. „Wir wollen Informations- und Meinungsfreiheit auch bei automatisierten Entscheidungsmechanismen sicherstellen. Die gerade in Kraft getretene Reform werden wir u. a. in Hinblick auf Praxistauglichkeit evaluieren. Wir wollen faire Rahmenbedingungen beim E-Lending in Bibliotheken. Analoge Spiele sollen im Sammelkatalog der Deutschen Nationalbibliothek benannt werden können“ (S. 123).
Einen eigenen Abschnitt stellt die „Erinnerungskultur“ dar, in dem es u.a. heißt: „Wir begreifen Erinnerungskultur als Einsatz für die Demokratie und Weg in eine gemeinsame Zukunft. Wir schützen unsere Gedenkstätten. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes werden wir unter Einbezug des Deutschen Bundestages, der SED-Opferbeauftragten und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie im Zusammenwirken mit den in diesen Bereichen Aktiven aktualisieren und die Gedenkstättenarbeit auskömmlich finanzieren. Lokale Initiativen wollen wir fördern und Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen digital zugänglich machen. Wir treiben die Geschichtsvermittlung der und in die Einwanderungsgesellschaft voran. Das Förderprogramm „Jugend erinnert“ wird verstetigt und modernisiert. Wir fördern Forschung in Gedenkstätten“ (S. 124f.).
In Verantwortung für Holocaust-Überlebende wird Deutschland „die laufenden Entschädigungsleistungen wie auch die finanzielle Unterstützung für die Pflege der heute hoch betagten Holocaust-Überlebenden konsequent sicherstellen, um ihnen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Gleichzeitig sollen die Zukunftsaufgaben der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts besondere Sichtbarkeit erlangen. Hierzu gehören insbesondere der Aufbau einer zentralen digitalen Themenplattform zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht und die Verstärkung und dauerhafte Förderung von Holocaust Education“ (S. 110).
Mit Blick auf die Opfer der SED-Diktatur heißt es im Koalitionsvertrag, dass die neue Regierung im Einvernehmen mit den Ländern die Beantragung und Bewilligung von Hilfen für die SED-Opfer, insbesondere für gesundheitliche Folgeschäden, erleichtern wird. Man werde die Definition der Opfergruppen an die Forschung anpassen und die SED-Opferrente dynamisieren. „Wir richten ergänzend einen bundesweiten Härtefallfonds für die Opfer ein und entwickeln hierfür die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge weiter“ (S. 110f.).
Gestärkt werden soll die Bundesstiftung Aufarbeitung, indem die Standorte der Außenstellen des Stasi-Unterlagen-Archivs „qualitativ entwickelt“ werden. Auch werde die begleitende Forschungs- und Bildungsarbeit unterstützt, ebenso „die Einrichtung des Archivzentrums SED-Diktatur und die Weiterentwicklung der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin zum Campus für Demokratie“ (S. 125).
So wie man sich weiterhin der Aufgabe stellen wird, NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter gemäß dem Washingtoner Abkommen an die Eigentümerinnen und Eigentümer zurückzuführen (und die Verjährung des Herausgabeanspruchs von NS-Raubkunst ausschließen wird), so wird die neue Regierung mit Blick auf das „Koloniale Erbe“ Deutschlands insbesondere die „Rückgabe von Objekten aus kolonialem Kontext“ unterstützen (S. 125). Koloniale Kontinuitäten sollen überwunden werden. In der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik will die Bundesregierung die „Mittler“ stärken, insbesondere das Goethe Institut, den Deutschen Akademischen Austauschdienst, die Alexander von Humboldt-Stiftung, das Deutsche Archäologische Institut und das Institut für Auslandsbeziehungen. Und in der „kulturellen Bildung“ soll es einerseits in Deutschland „neue Präsenzformate“ geben, wie auch gemeinsame Kulturinstitute der europäischen Partner in Drittländern und den „Aufbau einer digitalen europäischen Kulturplattform“ (S. 126).
Zum Themenfeld „Moderner Staat“: Zu ihrer Beschleunigung soll die Digitalisierung von Planungs- und Genehmigungsprozessen mit Priorität umgesetzt werden: Man werde „Behörden mit notwendiger Technik ausstatten, IT-Schnittstellen zwischen Bund und Ländern standardisieren und das digitale Portal für Umweltdaten zu einem öffentlich nutzbaren zentralen Archiv für Kartierungs- und Artendaten ausbauen. Bereits erhobene Daten sind, ggf. durch Plausibilisierungen, möglichst lange nutzbar zu machen“ (S. 12).
Der Abschnitt „Freiheit und Sicherheit“ behandelt u.a. die Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Freiheitsrechte. Dort heißt es in Bezug auf die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung, dass man diese derart ausgestalten werde, dass „Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können“ (S. 109). Und weiter: „Zum Schutz der Informations- und Meinungsfreiheit lehnen wir verpflichtende Uploadfilter ab“ (S. 110). Nachrichtendienste werden im Koalitionsvertrag als ein „wichtiger Teil der wehrhaften Demokratie“ bezeichnet: „Wir achten das verfassungsrechtliche Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten. Wir stärken und bauen die Kontrolle, insbesondere die parlamentarische, aller nachrichtendienstlichen Tätigkeiten des Bundes weiter aus. Das Sicherheitsrecht des Bundes, einschließlich der Übermittlungsvorschriften reformieren wir umfassend. Hilfsorgane der Parlamentarischen Kontrolle stärken wir. Die Wahrnehmung der Rechte Betroffener verbessern wir. Kontrolllücken schließen wir. Die Arbeit der Dienste wird durch eine fundierte wissenschaftliche Analyse gestärkt und differenziert. Wir schaffen eine unabhängige Kontrollinstanz für Streitfragen bei VS-Einstufungen und verkürzen die archivrechtlichen Schutzfristen auf maximal 30 Jahre“ (S. 110).
Im Kampf gegen den Rechtsextremismus will Bundesregierung die weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes energisch vorantreiben und ein „Archiv zu Rechtsterrorismus“ in Zusammenarbeit mit betroffenen Bundesländern auf den Weg bringen. Der 11. März, der ja bereits Europäischer Gedenktag für die Opfer des Terrorismus ist, wird auch nationaler Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt (S. 107). – Aufwertung erfahren soll auch der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar (S. 119).
Insgesamt ist der Koalitionsvertrag der Ampel aus SPD, Grünen und FDP in der Kulturpolitik, die prinzipiell Aufgabe der Bundesländer ist und für die es auch in der neuen Bundesregierung wiederum eine Staatsministerin für Kultur und Medien (Claudia Roth von Bündnis 90 / Die Grünen) geben wird, von Kontinuität gekennzeichnet, was ihm nicht zum Nachteil gereichen muss. Einige Großprojekte, wie der „Campus für Demokratie“ und die Rückgabe kolonialer Raubkunst, sind explizit benannt. Bei anderen Aufgabenfeldern mit Bezug auf das Historische Forschen und Lernen sucht man zwischen den Zeilen nach Anknüpfungspunkten und Zusagen. Daher scheint es u.a. von Bedeutung zu sein, dass der im Koalitionsvertrag mehrfach benannte und längst überfällige „umfassende digitale Aufbruch“ den „digitalen Staat“ und die „digitale Verwaltung“ nicht eng und gleichsam organisationstheoretisch interpretiert, sondern Archive, Bibliotheken und – die im Koalitionsvertrag beinahe gänzlich ausgesparten – Museen an den „digitalen Innovationen“ und an der „digitalen Infrastruktur“ teilhaben lässt, ja, sie diese mitentwickeln lässt. Die Erinnerungskultur ist in ihrer Breite und Tiefe, das kann man aus dem Ampel-Vertrag durchaus ersehen, eine generationsübergreifende Aufgabe zur lebendigen und wehrhaften Gestaltung der Demokratie. Investitionen in die Gedächtnisinstitutionen sind daher keine Investitionen in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft der Gesellschaft. – Nach der kommenden Legislaturperiode wird man sehen (und beurteilen), ob und inwieweit die Regierung das getan hat, was sie im jetzt vorgelegten Koalitionsvertrag versprochen hat.
Quelle: Bertelsmann-Stiftung: EINWURF 3/2021 Versprechen gehalten – Schlussbilanz zum Koalitionsvertrag der GroKo 2018-21, 22.10.2021; Tagesschau, Innenpolitik: Abschluss der Koalitionsverhandlungen, 24.11.2021; Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN und FDP, Nov. 2021