Die „Kabinettsprotokolle der Bundesregierung“ des Jahres 1990 sind online.
Die rasante Entwicklung in der DDR nimmt in den 35 Kabinettssitzungen des Jahres 1990 eine zentrale Rolle ein. Regelmäßig stehen die „innerdeutsche Lage“ bzw. ab Februar 1990 „deutschlandpolitische Fragen“ auf der Tagesordnung. Bundeskanzler Helmut Kohl sagt am 17. Januar 1990 im Kabinett, dass angesichts der Übersiedlerzahlen ein „irreparabler Schaden für die Volkswirtschaft im anderen Teile Deutschlands“ entstehen werde. Außerdem habe sich „die Stimmung in der DDR“ gegenüber dem Dezember 1989 „grundsätzlich geändert“, die damals „von Hoffnung und Aufbruchstimmung“ geprägt gewesen sei. Zur Entlastung des Kabinetts befasst sich ab dem 7. Februar 1990 ein Kabinettausschuss „Deutsche Einheit“ mit den wesentlichen Problemfeldern. Mit der Wirtschafts- und Währungsunion zum 1. Juli 1990 und der Zustimmung der vier Alliierten in den 2 + 4-Gesprächen werden wesentliche Voraussetzungen geschaffen. Die Pläne zur Wiedervereinigung schlagen sich auch in den vorsichtig optimistischen Wirtschaftsprognosen des Jahreswirtschaftsberichts und in den Beratungen zum Bundeshaushalt nieder, wobei die Unsicherheiten einer weniger stabilen weltwirtschaftlichen Entwicklung berücksichtigt sind.
Abb.: „Eine gute Durchsicht hat man zu beiden Seiten der Mauer am Brandenburger Tor, nachdem auch an dieser Stelle ‚Mauerspechte‘ am Werk waren.“ (Originaltitel des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes) (Quelle: BArch, Bild 183-1990-0105-029 / Reiche, Hartmut)
Nachdem am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit vollzogen ist, begrüßt das Kabinett am 5. Oktober 1990 symbolträchtig fünf neue Bundesminister*innen. Sie sollen „die besonderen Belange der Bürger in den beigetretenen Gebieten in die Beratungen des Kabinetts nachdrücklich einbringen“. In den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen am 2. Dezember 1990 wird die CDU/CSU-FDP-Koalition bestätigt. Das vierte Kabinett Kohl tritt am 23. Januar 1991 zu seiner ersten Sitzung zusammen.
Sicherheitspolitisch ist die Gefährdungslage der Bundesrepublik 1990 hoch. Das Kabinett erörtert Hungerstreikaktionen inhaftierter RAF-Mitglieder, Sprengstoffanschläge auf verschiedene Einrichtungen, Anschlagspläne auf Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle sowie die Attentate auf Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und auf den Ministerpräsidenten des Saarlandes Oskar Lafontaine. Dabei werden die personellen, materiellen und juristischen Grenzen möglicher staatlicher Schutzmaßnahmen, jedoch auch der „Abstumpfungsprozeß“ in der Bevölkerung offenbar.
Zunehmend drängen umweltpolitische Fragen in den Vordergrund. Neben dem Abfallgesetz, das zur nachhaltigen Verminderung von Plastikmüll beitragen soll, und strafrechtlichen Maßnahmen gegen Umweltkriminalität, stehen Berichte zur „Forschung zu globalen Umweltveränderungen“, zur CO2-Reduktion und über den Zustand des Waldes auf der Tagesordnung des Kabinetts. Im Bundestag fordern Die Grünen unter dem Eindruck einer Serie von Frühjahrsstürmen, die in vielen europäischen Ländern Todesopfer fordern, Antworten der Bundesregierung zum Thema „Orkane, Sturmfluten und die Klimaschutzpolitik“.
Von besonderer außenpolitischer Bedeutung ist die Unterzeichnung des Vertrags über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken anlässlich des Besuchs von Präsident Michael Gorbatschow in Bonn am 9. November 1990. Dieser umfassende Kooperationsvertrag, der auch die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes symbolisieren sollte, beruht auf einer Vereinbarung zwischen Kohl und Gorbatschow während ihrer medienwirksam inszenierten Gespräche im Kaukasus am 17. Juli 1990.
Angesichts der instabilen Lage in Rumänien nach dem Sturz Ceaușescu-Regimes im Dezember 1989 beschließt das Kabinett Energielieferungen und humanitäre Hilfsmaßnahmen sowie die Unterstützung ausreisewilliger Rumänien-Deutscher. Die verstärkte Zuwanderung aus den osteuropäischen Ländern und die zunehmende Zahl der Asylanträge führen jedoch zu ernsthaften Unterbringungsproblemen und sozialen Spannungen in den Bundesländern. Nach einer im September 1990 vorgelegten Flüchtlingskonzeption des BMI sollen in Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern und den Herkunftsländern die Wanderungsbewegungen eingegrenzt werden.
Mit der Veröffentlichung der Kabinettsprotokolle des Jahres 1990 nutzt das Bundesarchiv die durch Kabinettsbeschluss von 2011 gegebene Möglichkeit, bislang unkommentierte, jedoch textkritisch bearbeitete Protokolle gemäß der archivrechtlichen 30-Jahresschutzfrist kontinuierlich als Übergangsangebot im Internet zur Verfügung zu stellen.
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Quelle: Bundesarchiv, Pressemitteilung, 19.8.2021