Das Schwäbisch Haller Kreisarchiv sieht genauso aus, wie man es für ein Bilderbuch zeichnen würde: Es ist im Landratsamt ganz oben unterm Dach, man erreicht es nur über verwinkelte Gänge und mehrere Treppenhäuser. Dort hat es schräge Wände und lange, schmale Gänge, die gesäumt sind von Regalen voll alter Bücher, Ordner und Kisten. Dazwischen steht ein Holzklotz. Er ist deshalb im Archiv, weil ein Landwirt aus Kreßberg entdeckt hat, dass sich im Baumstamm 1945 ein französischer Kriegsgefangener verewigt hat.
In ein solches Bilderbucharchiv würde ein Illustrator vermutlich einen alten, etwas schrullig aussehenden Mann malen, der über diese Schätze wacht. Tatsächlich trifft man dort auf den 45-jährigen Matthias Röth, der sehr gerne lacht. Der Archivar und Judith Ramakers, Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, halten dort nicht nur Ordnung, sondern sie machen den Zugriff auf Dokumente früherer Zeiten und unserer heutigen Tage auch zukunftssicher: Papier ist verhältnismäßig einfach zu lagern und bleibt lange lesbar, sofern man die Sprache und die Schrift kennt. Bei elektronischen Akten, Tondokumenten oder Filmen stellen sich ganz andere Probleme, weil Abspielgeräte und Dateiformate sich sehr schnell ändern. Diese Dinge so zu archivieren, dass sie auch in ferner Zukunft gelesen werden können, ist eine Aufgabe, die Röth natürlich nicht alleine angeht: Das Landesarchiv Baden-Württemberg steuert und unterstützt das Vorgehen, aber vor Ort muss es umgesetzt werden.
Abb.: Matthias Röth steht zwischen den Regalen im Haller Kreisarchiv. Seit gut einem Jahr ist er dessen Leiter (Foto: Ufuk Arslan).
Doch derzeit ist Röths Hauptaufgabe noch ganz in der Vergangenheit verhaftet: Er erfasst das Gemeindearchiv von Wallhausen und das Schularchiv von Gerabronn in elektronischen Findbüchern. Da geht es inhaltlich um den Vollzug des Schulgesetzes in Gerabronn in der Zeit von 1836 bis 1839. Und irgendwann viel später wird dann die Umsetzung der Corona-Regeln bei den Abiturprüfungen im Jahr 2021 erfasst werden.
Übernehmen und bewerten
Eines ist Röth wichtig: Einem Archiv wachsen Akten zu, sie werden übernommen, wenn sie im Tagesgeschäft nicht mehr benötigt werden. „Nennen Sie es bitte nicht sammeln“, mahnt er. „Ein Archivar übernimmt und bewertet.“ Aber er sammelt auch: Flugblätter, Flyer, Plakate und mehr dokumentieren das öffentliche Leben. Was wird aufbewahrt, was vernichtet? „Der Archivar entscheidet am Regal“, sagt Röth selbstbewusst. Es gibt überregionale Bewertungsmodelle für die Einschätzung der Relevanz von Dokumenten, aber die Entscheidung trifft letztlich eine Person alleine.
Das ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit: „Wir legen fest, was später verwendet wird, um Geschichte zu schreiben.“ Weil es aber gar nicht möglich ist, bei jedem Dokument zu beurteilen, ob es künftig von Bedeutung sein wird, spielt auch der Zufall mit: Bei „massenhaft gleichförmigen Akten“ wie Anträge auf Sozialhilfe oder Bafög wird eine Buchstabenauswahl getroffen. Das heißt, die Dokumente von Personen, deren Name mit einem bestimmten Buchstaben beginnt, werden aufbewahrt, die anderen weggeschmissen.
Das Firmenarchiv inspiriert
Wie kam es zum Berufswunsch Archivar? „Ich habe mich schon als Kind mit Archivalien beschäftigt“, erklärt Röth. Das war im Firmenarchiv von Zweirad-Röth in Hammelbach im Odenwald. Matthias Röths Ur-Ur-Großvater hat diesen Betrieb im Jahr 1873 gegründet, sein Vater hat ihn in vierter Generation geführt. Es war eine Importfirma, die 40 Motorradmarken aus aller Welt an 400 Fachhändler in Deutschland vermittelte.
Doch Röths beruflicher Weg mäandrierte wie ein Fluss: Er wollte Geschichte und Sprachen verbinden, „ich hatte in der Schule Latein, das war hilfreich“. Trotzdem wurde er zuerst Industriekaufmann, dann Übersetzer. Beide Berufe brachte er auch ins Familienunternehmen ein, aber sie waren ihm auf Dauer nicht kreativ genug. Zwischendrin wollte er Journalist werden, schrieb für die Südhessische Post und ging für eineinhalb Jahre nach Bukarest zu einem Medien-Magazin. Schließlich drückte er nochmal drei Jahre die Schulbank, um das Abi zu machen. Und dann ergriff er die Möglichkeit, Archivar zu werden.
Die Freude an Dingen, die das Leben in verschiedenen Zeiten veranschaulichen, begleitet ihn auch in seiner Freizeit: Die Firma des Vaters hatte auch ein kleines Motorrad-Museum – und dieses pflegt Matthias Röth nach wie vor. Etwa an jedem zweiten Wochenende öffnet er es für angemeldete Besucher.
DDR-Geschichte im Odenwald
Und direkt daneben, ebenfalls auf dem früheren Firmengelände von Zweirad-Röth, gibt es das „DDR-Museum im Odenwald“. Ja, wieso ein DDR-Museum, wenn die Familie ihre Wurzeln im Odenwald hat? „Mein Vater hat Motorräder aus vielen Ländern importiert, darunter ab 1986 die Marken MZ und Simson aus der DDR. Damals war ich elf Jahre alt und durfte mehrfach mit in die DDR reisen. Ich fand das sehr spannend, weil es so anders war.“
Er begann, Alltagsgegenstände in Geschäften in der DDR zu kaufen und zu sammeln. Als Höhepunkt seines etwa 500 Exponate umfassenden Museums benennt er eine Telefonanlage aus dem Palast der Republik, mit der der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker persönlich telefoniert habe: „Die stand in einem Seitenkammerl.“ Mit Ostalgie habe sein Museum nichts zu tun, versichert Matthias Röth. „Alles hat einen fachlichen Hintergrund und ich erzähle immer die historischen Zusammenhänge dazu.“ Denn ohne Führung kann man seine Museen nicht besuchen. Und wie sieht es in seiner Wohnung aus? Ist die auch vollgestopft mit altem Zeug? „Nein, ich schmeiße weg, was weggeschmissen werden muss. Ein Archivar muss wegwerfen können.“
Zur Person
Matthias Röth ist am 13. Dezember 1975 in Weinheim geboren. Er kam früh mit Archivalien in Kontakt: Sein Vater hatte eine große Motorrad-Import-Firma (Zweirad-Röth), und diese hatte ein Firmenarchiv. Dort hat Röth schon als Kind in alten Motorradprospekten gewühlt und aktuelle gesammelt.
Nach der Mittleren Reife machte er eine Ausbildung zum Industriekaufmann und arbeitete dann im Familienbetrieb mit. Parallel begann er, als freier Mitarbeiter für eine Zeitung zu schreiben. Er wollte Journalist werden und machte eineinhalb Jahre lang ein Auslandspraktikum bei einer deutschsprachigen Journalisten-Zeitung in Bukarest/Rumänien.
Auf weitere Zwischenstationen im heimischen Betrieb folgte eine Ausbildung zum Übersetzer in Heidelberg, das Abitur am Hessen-Kolleg in Frankfurt und schließlich die Ausbildung zum Diplom-Archivar beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Röths erste Stelle als Archivar war in Starnberg. Dort habe er das Stadtarchiv neu aufgebaut, das vorher brachgelegen habe, berichtet er. Von 2006 bis 2012 arbeitete er dort mit nur einem Kollegen zusammen. Es folgte der Wechsel ins Münchner Stadtarchiv, wo er etwa 50 Kollegen hatte. Er wurde dort stellvertretender Bereichsleiter für den Lesesaal und die Benutzerbetreuung.
Seit Februar 2020 leitet Röth die Archive des Landkreises Schwäbisch Hall und aller Kommunen im Kreis außer Schwäbisch Hall und Crailsheim. Das sind 28 Gemeinden.
Röth ist ledig und kinderlos. Er wohnt in Schwäbisch Hall, fährt aber mindestens jedes zweite Wochenende nach Hammelbach/Gemeinde Grasellenbach im Odenwald, denn dort betreut er zwei private Museen: Das Motorradmuseum, das die Geschichte des Familienbetriebs aufzeigt, und ein DDR-Museum, das Matthias Röth selbst aufgebaut hat. Ein weiteres Hobby ist Motorrad fahren, und er liest sowohl Sachbücher zum Beispiel über die Geschichte der DDR sowie über Motorrad- und Technik-Geschichte als auch literarische Kurzgeschichten.
Die Museen sind nur nach Anmeldung geöffnet: Telefon 01 79 / 4 98 65 65 oder E-Mail an matthias.roeth@web.de
Kontakt:
Matthias Röth, Kreisarchivar
Leiter Fachbereich 11.4 Kreisarchiv
Landratsamt Schwäbisch Hall
Münzstraße 1
74523 Schwäbisch Hall
Tel. 0791-755-7398
Fax: 0791-755-7362
m.roeth@LRASHA.de
www.LRASHA.de
Quelle / Autorin: Monika Everling, „Man muss wegwerfen können“. Matthias Röth leitet seit einem Jahr die Archive des Landkreises Schwäbisch Hall und von 28 Kommunen im Kreis, in: Haller Tagblatt, 5.5.2021, S. 11