Vom herzoglichen Jagdrevier zur öffentlichen Erholungslandschaft.
Gegenwärtige Größe und Bedeutung sind, das ist nun wahrlich keine bahnbrechende Erkenntnis, nicht gleichbedeutend mit dem Alter und der Länge der Traditionslinie. Ganz in diesem Sinne sind die Zoos in Rostock und Schwerin zwar die in Mecklenburg-Vorpommern mit den größten Tierbeständen, nicht jedoch die ältesten hierzulande noch bestehenden Gründungen ihrer Art. Dieses Prädikat dürfte dem Tiergarten Neustrelitz zufallen, der bereits 1721 ins Leben gerufen wurde. Unter diesem Aspekt muss sich die bekannteste aller Online-Enzyklopädien, die den 1752 als private Menagerie begründeten Tiergarten Wien-Schönbrunn als „älteste[n] noch bestehende[n] Zoo der Welt“ deklariert, mindestens hinterfragen und eventuell korrigieren. Als dessen Pendant in Deutschland gilt übrigens der 1844 in Berlin-Mitte für das allgemeine Publikum eröffnete Zoologische Garten.
Womöglich handelt es sich jedoch lediglich um eine Frage der Definition beispielsweise hinsichtlich der konstanten Dauerhaftigkeit des Bestehens, einer mit einer Forschungsintention verbundenen wissenschaftlichen Leitung, oder eines öffentlichen Zugangs für Bildungs- und Erholungszwecke. Verlässliche Antworten darauf lassen sich für den Tiergarten Neustrelitz kaum finden, der Mantel der Geschichte verhüllt hier mehr als Einblicke zu gewähren. Ein solcher Einblick ist allerdings, dass bereits 1710/11 ein herzogliches Jagdhaus in Glienecke am Zierker See entstand, das ab 1726 zum neuen Residenzschloss ausgebaut wurde. Bereits ein halbes Jahrzehnt zuvor, 1721, wurde südöstlich des Jagdhauses ein sogenannter Tiergarten errichtet. Es handelte sich dabei um einen mit Staketen als Wildgatter eingezäunten waldartigen Park, der als Jagdrevier mit Damwild konzipiert war. 1766 erwähnte der englische Reisende Thomas Nugent den vor dem Neustrelitzer Schloss bestehenden Tiergarten, ohne näher auf dessen Charakter oder Bestimmung einzugehen.
Abb.: Wild und Pfleger im Tiergarten Neustrelitz, nach 1930 (Landeshauptarchiv Schwerin, 13.2-1/1, Neustrelitz 45)
Der Tierbesatz scheint, auch wenn neben dem „rudelweise zahme[n] Damwild“ gelegentlich von Gehegen mit Schwarzwild die Rede ist, in nahezu zwei Jahrhunderten ganz unverändert geblieben zu sein. Hieß es doch in einem von Annalise Wagner 1938 herausgegebenen touristischen „Wanderführer“, an dem Staatsarchivrat Carl August Endler ebenso mitarbeitete wie die beiden Konservatoren Konrad Hustaedt und Walter Karbe, vom Neustrelitzer Schlossplatz „geht es durch das Hirschtor in den schönen Tiergarten, in dem noch Damwild gehalten wird.“ Der für die Kreierung einer Erholungslandschaft und den Naturschutzaspekt nicht ganz unwichtige Baumbestand im Tiergarten Neustrelitz, insbesondere eine bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf ein Alter von 200 Jahren geschätzte Esche, wird immerhin schon reflektiert. Der „prachtvolle alte Baumbestand“ mit seinen idealen Nistmöglichkeiten für viele Vogelarten galt im Übrigen noch in den 1980er Jahren als „fesselnd[e]“ Besucherattraktion.
Ganz anders als mit der Vermittlung des Wandels von Fauna und Flora, der eigentlich konstitutiven Elemente für Tiergärten bzw. –parks, verhält es sich mit historischen Einlassungen über bauliche Veränderungen. Finden Eiskeller, Wildhüterhaus und eine kleine tempelartige Laube aus dem ersten Jahrhundert kaum Erwähnung, so erfreuen sich Pulverturm und Wildhof bzw. Wildmeisterhaus 1811 bzw. 1818 unter der Ägide des (groß-)herzoglichen Hofbaumeisters Christian Philipp Wolf erbaut – schon größerer Aufmerksamkeit.
Abb.: Wildhof des Tiergartens Neustrelitz, um 1912 (Landeshauptarchiv Schwerin, 13.2-1/1, Neustrelitz 10)
Am Hirsch-Portal, benannt nach zwei von Bronzehirschen gekrönten Granitpfeilern, kommt schließlich niemand mehr vorbei – zu verlockend sind die von Friedrich Wilhelm Buttel stammende Konzeption und die Ausführung der namengebenden Plastiken durch Christian Daniel Rauch nebst der sich darum rankenden Anekdote: Weil ihm die anatomische Umsetzung der beauftragten Hirschfiguren mangels Anschauung Probleme bereitete, sandte der Großherzog den zur Konservierung in branntweingetränktes Tuch verpackten Kopf eines soeben erlegten Zehnenders per Extrapost in die Berliner Werkstatt – der Künstler war’s zufrieden und das Bret noch so frisch, dass davon zwei Festbraten für seine Mitarbeiter abgefallen sein sollen.
Abb.: Hirsch-Portal des Tiergartens Neustrelitz, um 1901 (Landeshauptarchiv Schwerin, 13.2-1/1, Neustrelitz 9)
Der im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges gleichsam nicht mehr existente Tiergarten Neustrelitz konsolidierte sich ab Mitte der 1950er Jahre nicht zuletzt dank sozialistischer Betriebspatenschaften und freiwilliger Aufbaustunden. Infolge dessen konnte er sich, wie es für die 1980er Jahre heißt, „als moderne, gut geleitete und betreute Einrichtung präsentieren.“ Der Bestand wuchs von 58 Tierarten mit 360 Tierindividuen (1983) auf 70 Arten mit 420 Individuen (1985) und 85 Arten mit 850 Individuen (1987). Dabei handelte es sich nach wie vor um heimisches Getier, also Dam-, Rot-, Schwarz-, Muffel- und kleines Raubwild sowie zahlreiche Vogelarten, eine Erweiterung um Elche, Rentiere, Wisente, Luchse und Wölfe stand zumindest auf dem Plan bzw. auf der Wunschliste.
Heute ist der Tiergarten Neustrelitz als ältester Tierpark in Mecklenburg-Vorpommern im Übrigen der mit der wohl zweitgrößten Ausdehnung. Mit 48 ha ist er etwas kleiner als der Zoo Rostock mit 56 ha, jedoch – vom Wisentreservat Damerower Werder auf 320 ha einmal abgesehen – größer als der Zoo Schwerin auf 25 ha.
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Quelle: Dr. Matthias Manke, Landeshauptarchiv Schwerin, Archivalie des Monats Mai 2021