Aus der neuen Dürrner Ortschronik (3)

Die neue Ortschronik „Dürrn“ zeichnet die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg“ im Enzkreis in Baden-Württemberg nach. Der Verfasser der Ortschronik, Konstantin Huber, ist Leiter des Kreisarchivs des Enzkreises in Pforzheim. Mit drei einzelnen Folgen sollen Einblicke in die neue Dürrner Ortschronik gegeben werden.

Folge 3: Aus „Flüchtlingen“ werden Neubürger: Die Integration der Heimatvertriebenen

Als Folge des von Deutschland begonnen Zweiten Weltkrieges hatte Nachkriegsdeutschland Millionen von Heimatvertriebenen aufzunehmen – eine Last, die in erster Linie die Gemeinden zu tragen hatten. Das Hauptproblem für diese große Zahl von Vertriebenen war zunächst deren Unterbringung, doch auch Mobiliar, Kleidung, Brennholz, Lebensmittel und Medikamente fehlten. Die Menschen brauchten Arbeit, die Kinder benötigten Schulbildung, und weil die allermeisten Vertriebenen Katholiken waren, fehlten auch Kirchen in der Nähe. Die Länder mussten eine bestimmte Anzahl von Heimatvertriebenen aufnehmen, die sie zunächst in Flüchtlingslagern unterbrachten. Von dort wurden die Menschen im Umlageverfahren auf die Landkreise und Gemeinden weiter verteilt. In Dürrn schlug man wie andernorts Feldbetten auf und nutzte die öffentlichen Räumlichkeiten in der Schule sowie im Rathaus, bis man die Menschen in die Privathäuser verteilte, wo Eingesessene und Vertriebene auf engstem Raum zusammenrücken müssten.

Abb.: Neue Heimat für Vertriebene: Bau der Siedlung „bei der Mühle“, später Erlenbachstraße (1949).

Während die im Dorf einquartierten Evakuierten aus den ausgebombten Großstädten allmählich in ihre wieder im Aufbau befindlichen Heimatstädte zurückkehren konnten, steckten die Vertriebenen in ihren beengten Wohnverhältnissen im wahrsten Wortsinn in einer Zwickmühle: Einerseits wollten sie so bald wie möglich ausreichend Wohnraum, andererseits hofften sie – wie auch die sie beherbergenden Dürrner – weiterhin auf eine Rückkehr in die alte Heimat. Ende der 1940er Jahre schwand diese Hoffnung immer mehr. Beide Einwohnergruppen mussten sich damit abfinden, dass Dürrn für viele Vertriebene zur dauerhaften Bleibe werden würde. Die amtlichen Stellen pochten auf baldige Integration und drängten auf Zuteilung von Siedlungsgelände.

Die ersten „Ostflüchtlinge“ kamen ab Frühsommer 1945 nach Dürrn, darunter die Familien Milder, Olbrich, Tomkowitz sowie im Juli 1946 die achtköpfige Familie Waschka aus Stangendorf in Mähren. In den Monaten April bis August 1946 betrug die Anzahl der Vertriebenen jeweils zwischen 14 und 37. Doch die große Welle sollte erst noch folgen, denn im Herbst 1946 kamen über 100 Sudetendeutsche in drei großen Transporten nach Dürrn. Zuvor war durch den örtlichen Wohnungsausschuss der Wohnungs- und Personenbestand aufgenommen worden. Der erste große Transport brachte am 11. September gleich 45 Personen aus dem Flüchtlingslager Kislau. Die meisten dieser Vertriebenen stammten aus Hostau und Plöss, darunter die Familien Brix, Penkert und Pöhnl. Am 26. September folgten 30 weitere Neubürger aus dem Lager Hockenheim, die meisten aus Saaz stammend, unter ihnen die Pauker und Storch (letztere aus Welmschloss). Der dritte große Schub am 13. Oktober brachte schließlich 29 Personen, vor allem aus Stangendorf/Mähren, darunter die Familien Friedl, Heinisch und Hofmann. Damit hatte die Bevölkerungszahl in Dürrn fast 1.000 erreicht, und die rund 140 „Ostflüchtlinge“ machten dabei 15 Prozent aus; ebenso groß war der Anteil der Evakuierten. Das bedeutet: Jeder dritte Einwohner war erst in den vergangenen ein bis zwei Jahren nach Dürrn gekommen. Nach 1946 erhöhte sich die Anzahl der „Ostflüchtlinge“ weiter; so bis Ende 1950 auf 169, bis Ende 1952 auf 184 und bis Ende 1953 auf 226 Personen sowie 1958 auf 239 (was dann 23 % entsprach). Nach dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 war eine größere Zahl von „Sowjetzonenflüchtlingen“ unterzubringen. Nach Dürrn wurden im Juli und September 8 bzw. 17 Personen zwangsweise zugewiesen. Noch immer aber war das Wohnungsproblem groß; so lehnte der Gemeinderat 1954 die Aufnahme einer weiteren Sowjetzonen-Flüchtlingsfamilie ab, da keine ordnungsgemäße Unterbringung gewährleistet werden konnte.

Das Bild des alten Dorfes verändert sich

Die Aufnahme der Heimatvertriebenen erforderte entschiedenes Handeln. Doch der dringend notwendige Wohnungsbau kam nur schleppend in Gang. 1947 war lediglich eine Zweizimmerwohnung erstellt worden, was Bürgermeister Schäfer mit geringer Baustoffzuteilung und Durchführung des Landwirtschaftsnotprogramms entschuldigte. Erst nach dem Aufbaugesetz von 1948 beschloss der Gemeinderat die Umlegung in den Gewannen „Äußere Wiesen“, „Roter Garten“ und „Wassergärten“. Der bereits 1931 gefasste Beschluss zur „Durchführung der Friedenstraße“ wurde also ab 1949 und teilweise mithilfe von Notstandsarbeiten umgesetzt. Als eine Rückkehr der Heimatvertriebenen zunehmend unwahrscheinlicher geworden war, regte das Landratsamt die Erschließung einer Siedlung nach dem Modell der Gemeinde Stein an, worauf der Gemeinderat im Dezember 1948 das Gebiet „Bei der Mühle“ vorschlug, die heutige Erlenbachstraße. Die Gemeinde sah sich finanziell aber nicht zu Vorleistungen in der Lage und verwies die Bauinteressenten an eine Baugenossenschaft.

Bei vielen Vertriebenen stieß die Idee für die Siedlung auf offene Ohren, konnten sie doch hier separat wohnen. So schrieben die Familien Treffny, Bartl, Pöhnl, Kruschina, Dongus, Storch, Förster, Ott, Pauker und drei weitere 1949 an Landrat Dissinger: „Die tiefe Trauer um die verlorene Heimat kann nur gemildert werden, wenn uns ein Stück Erde nach unseren eigenen Herzenswünschen geboten wird. Viel Sonne, gute Waldluft, trockener Wohnraum soll die durch bisher ungeeignete Unterbringung sowie schlechte Ernährung und vorhergegangene Mißhandlungen untergrabene Gesundheit teilw. wiederherstellen. Genug Platz zu ein. späteren Weiterentwicklung, ausreichendes Gartenland, beim Haus, genügend Gelände für zukünftige Wohnungsbauten der restlichen 25 Familien. Dies Alles bietet uns das ausgewählte Gelände in vollkommenem Maße. Wir appellieren daher an Ihr gutes Herz sowie an Ihre hohe Auffassung der Demokratie, uns auch bei dieser für uns weittragenden Entscheidung mitbestimmen zu lassen, und bitten Sie aus vollstem Herzen, den gewünschten Bauplatz zu genehmigen.“

Gebaut wurde überwiegend über die Baugenossenschaft „Neue Heimat“, Ausfallbürgschaften trug die Gemeinde. Den Plan der Baugenossenschaft, zwei Familien in einem Haus unterzubringen, lehnten die Siedler jedoch ab. Im April verfasste Gustav Treffny ein weiteres Schreiben an das Landratsamt. Er wünschte „Einfamilienhäuser nach dem Steiner Muster oder ähnlich“. Als Begründung führte er weiter aus: „Zur Verwurzelung in der uns zugew[iesenen] Heimat, aber auch zur Abwehr aller linksradikalen Einflüße ist es am besten, wenn ein ruhiges Daheim, ein kleines Stück Eigentum, ungeteilt nach eigenem Willen gestaltet und ausgebaut werden kann.“ Das Richtfest für die Siedlung „bei der Mühle“ wurde im September 1949 gefeiert, und 1950 lebten dort 35 Personen. Schließlich baute die Gemeinde doch noch selbst dort. Mit dem Lastenausgleichsgesetz 1952 besserten sich langsam auch die Vermögensverhältnisse der bei der Währungsreform 1948 noch benachteiligten Neubürger, wenngleich die eigentlichen Entschädigungen erst ab 1957 flossen.

In der Wirtschaftswunderzeit gelang die Eingliederung der Neubürger. Der frühere Mythos von der „schnellen Integration“ ist mit darauf zurückzuführen, dass man diese von politischer Seite bereits dann als gelungen betrachtete, wenn die Heimatvertriebenen ein Dach über dem Kopf, Arbeit und eine Kirche zum Beten hatten. Doch in den Herzen der Menschen sah es oft anders aus. Denn die Integration war nur gegen Widerstände der Stammbevölkerung, die in vielen Bereichen vor dem Nichts stand, und unter starkem Druck der Militärregierung möglich geworden. Doch die Ressentiments schwanden, und schon 1949 gab es die ersten Verlobungen zwischen evangelischen Alt- und katholischen Neubürgern.

Konstantin Huber

Siehe auch:
Folge 1: Die Dürrner Schnapstrinker – oder: „Der Branntwein hat in Dürrn eine hochtraurige Bedeutung“
Folge 2: Der Dürrner Charakter

Info:
Konstantin Huber:
Dürrn. Die wechselvolle Geschichte eines Dorfes zwischen Kraichgau und Stromberg.
Mit Beiträgen von Christoph Florian und Martin Schickle
Ostfildern und Pforzheim 2017
520 Seiten, 300 Abbildungen
ISBN 978-3-7995-0692-2

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