Aus der Serie „Geschichtsort Archiv“
ENZKREIS. Wer mehr über das bürgerliche Alltagsleben im 19. Jahrhundert erfahren möchte, wird sich in der vielfältigen Museumslandschaft umsehen. Will man aber die gesamte Komplexität eines bürgerlichen Besitzes mit sämtlichen Alltagsgegenständen begreifen, dann lohnt ein Besuch in den Archiven der Gemeinden und Städte, die traditionell dem württembergischen Landesteil angehören. Denn hier wurden bis zum Jahr 1900 sogenannte „Inventuren und Teilungen“ angelegt.
Abb.: In Leder gebundene Inventuren und Teilungsakten aus dem Gemeindearchiv Schmie, 18. Jahrhundert (Bildnachweis: Stadtarchiv Maulbronn).
Dabei handelt es sich um Vermögensbeschreibungen eines Einwohners, die man bei dessen Heirat (Inventur) und nach seinem Tod (Teilung) anlegte, um vor allem Erbstreitigkeiten zu vermeiden. Auch waren Gemeinden und Städte darauf bedacht, dass ihre Bürger nicht verarmten und von ihnen ausgehalten werden mussten. Die Inventur wurde durch den „Waisen- und Theilrichter“ vorgenommen. Obgleich im württembergischen Landrecht die „Inventuren und Teilungen“ seit dem 16. Jahrhundert verankert sind, liegen im Stadtarchiv Maulbronn die ältesten Akten erst ab 1690 vor, was auf die Kriege des 17. Jahrhunderts zurückzuführen ist.
Aus den akribisch zusammengestellten Dokumenten lässt sich ablesen, wie es um die Besitzverhältnisse und den sozialen Stand bestellt war: Ein Taglöhner war nicht immer arm, ein Steinbruchbesitzer nicht unbedingt vermögend. Besonders wohlhabend waren hingegen verblüffenderweise Pfarrerswitwen und Metzger mit einer Gastwirtschaft. Zudem wird erkennbar, wie sich lang andauernde Friedenszeiten auf den Wohlstand auswirkten – was vor allem an Küchenutensilien und der Einrichtung von Wohnstuben erkennbar ist.
Abb.: Im Museum auf dem Schafhof in Maulbronn wurden zahlreiche historische Alltagsgegenstände zusammengetragen, wie sie auch in den „Inventuren und Teilungen“ beschrieben werden (Stadtarchiv Maulbronn).
In der vorindustrialisierten Gesellschaft wurden alle Gegenstände mühsam von Hand hergestellt. Waren sie noch zu gebrauchen oder konnte das Material wiederverwendet werden, maß man ihnen einen Wert zu: Ein abgetragener Mantel, eine alte Laterne oder ein verkratzter Zinnteller sind deshalb ebenso gelistet wie besondere Wertgegenstände. Aus der Sicht unserer heutigen Wegwerfgesellschaft, in der die meisten Alltagsgegenstände nur noch eine kurze Halbwertszeit haben, wirken die seitenlangen Auflistungen eher befremdlich.
Listen helfen bei Ahnen-, Bau- und Heimatforschung
Ererbte Gebäude stehen nicht in Kaufbüchern und in den Steuerbüchern wurden die Erben oft nur zeitverzögert oder gar nicht eingetragen. Deshalb lässt sich anhand der „Inventuren und Teilungen“ die Nutzung eines Gebäudes rekonstruieren. Besonders wertvoll sind die historischen Dokumente für die Ahnenforschung, da nicht nur biografische Daten und Orte ergänzt werden können, sondern auch die Alltagswelt früherer Menschen konkret vorstellbar wird: Wie sah das Inventar eines Hauses aus, wie waren die Menschen gekleidet, welches Handwerkszeug verwendeten sie?
Abb.: Karikatur eines Soldaten in einer Nachlassakte vom Elfinger Hof (Maulbronn) aus dem Jahr 1807 (Bildnachweis: Stadtarchiv Maulbronn).
Als sogenannte „verdeckte Akten“ enthalten die Listen Briefe von einfachen Soldaten und Auswanderern des 18. und 19. Jahrhunderts, die man damals als Beweis für die Existenz eines Erben anfügte. Selbst illegal ausgewanderte Personen können nachgewiesen werden – denn obgleich sie ihre bürgerlichen Rechte verloren hatten, waren sie nach wie vor erbberechtigt. Zudem finden sich in den Beilagen häufig Apothekenrechnungen oder offene Forderungen von Handwerkern, die Auskunft darüber geben, was eine Leistung oder was Gewerke kosteten. Damit lassen sich Arbeit, Bezahlung und Besitz in Relation zueinander setzen.
Ein besonderes Beispiel liefert eine Inventur, die Hinweise auf den bedeutenden Önologen und Weinbaupionier Balthasar Sprenger enthält, der ab 1757 Klosterprofessor in Maulbronn war. Darin wird beschrieben, dass er von seinem Amtsvorgänger nicht nur Werkzeuge, sondern auch einen Garten und einen Weinberg mit Anteil an einem Weinberghäuschen im Eichelberg auf der Nachbargemarkung Lienzingen übernommen hatte. Hier machte Sprenger seine ersten praktischen Erfahrungen im Weinbau.
Ein anderes Beispiel geht auf den Bücherbesitz ein, der sich in kleinbürgerlichen Verhältnissen meist auf Bibeln, Gesangbücher und christliche Erbauungsliteratur beschränkte. Bei den örtlichen Honoratioren sind hingegen neben Fachbüchern, Atlanten und Lexika auch klassische Literatur und Belletristik zu finden. So kam Carl Friedrich Brecht – Sohn des Maulbronner Klosterwirts – bereits im Elternhaus mit der legendären Gestalt des Doktor Faust in Berührung, da dort eine Ausgabe von Friedrich Maximilian Klingers 1791 erschienenem Band über „Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt“ vorlag. Brecht beschrieb in romantischer Tradition zwischen 1837 und 1858 das Kloster Maulbronn und seine Legenden, so auch die über den Alchimisten Faust.
Ein weiteres erhellendes Phänomen sind mundartliche Bezeichnungen von Hausrat, Kleidung und Werkzeugen. Vor 200 Jahren ist beispielsweise die Rede von Bettlade (Bettgestell), Haipfelziechen (Überzug des großen Kopfkissens), Sutterkrug (langer, enghalsiger Krug für Most), Gölte (mit Handgriffen versehenes Wassergefäß), zizener Kittel (Jacke aus Druckkattun), Canapee (Sofa; aus dem Französischen), Handkarch (Handkarren), Krautstande (offener Bottich zum Kraut einmachen), Zeuglensschurz (gestreifte oder karierte Schürze aus Baumwollstoff mit Leinwand) und Nuster (Schnur von Perlen oder Glaskugeln).
Detailliertes Hintergrundwissen liefert die Veröffentlichung „Serielle Quellen in südwestdeutschen Archiven“, die vom Württembergischen Geschichts- und Altertumsverein herausgegeben wurde. Weitere Informationen gibt es außerdem bei Martin Ehlers im Stadtarchiv Maulbronn.
(Martin Ehlers)
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