Wer nicht wusste, was Bibelfliesen sind und wer die Fliesenbibel nicht kannte, der befand sich lange Zeit in guter Gesellschaft. Es ist der Aktivität desNorder Bibelfliesenteams zu verdanken, dass die seit dem 17. Jahrhundert meist in den Niederlanden produzierten Fliesen mit biblischen Motiven in den vergangenen Jahren neue und verstärkte Aufmerksamkeit erfahren haben.
Die umtriebige Projektgruppe um den pensionierten evangelischen Pfarrer Kurt Perrey, der ursprünglich von Norden in Ostfriesland und jetzt von Emsdetten aus wirkt, trägt mit einer Wanderausstellung sowie mit der 2008 erfolgtenVeröffentlichung der Fliesenbibel, des „Buches der Bücher mit den Bibelfliesen“, maßgeblich dazu bei, dass die Fliesen mit ihren rund 600 identifizierten verschiedenen Motiven aus dem Alten und dem Neuen Testament nicht nur innerkirchlich eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren haben. In Gottesdiensten, Workshops, auf Kirchentagen, in Archiven und Museen werden die „glasierten Predigten“ – Miniaturen im Format 13 x 13 Zentimeter – präsentiert und interpretiert. Die ursprünglich durchaus kostspieligen Fliesen mit biblischen Szenen wurden im 18. und 19. Jahrhundert zur Massenware. Als Ausdrucksform volkstümlicher Frömmigkeit waren sie an den Herden, in den Küchen und Stuben friesischer Bauernhöfe und Bürgerhäuser zu finden. Aber auch in einem der bekanntesten historischen Gebäude Bielefelds, in dem um 1530 in der Altstadt errichteten und nach der Kriegszerstörung bis 1949 wieder aufgebautenCrüwell-Haus, sind rund 7.000 historische Delfter Kacheln aus dem 16. bis 18. Jahrhundert aus der Sammlung des Kaufmanns Richard Mitzlaff-Crüwell (†1985) angebracht worden und als Ensemble zu bestaunen.
Das Norder Bibelfliesenteam und der Arbeitskreis Bibelfliesen Emsdetten bilden unter Perreys Leitung die Projektgruppe Kulturgut Bibelfliesen, die nunmehr gemeinsam mit dem Comenius-Institut in Münster einen weiteren Schritt zur Verbreitung und Verbreiterung des Wissens um die Bibelfliesen unternommen hat: Sie veröffentlichten einen Sammelband, der sich erstmals mit den religionspädagogischen Dimensionen und Einsatzmöglichkeiten der Bibelfliesen beschäftigt. 33 Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Kirche und Schule widmen sich dabei in ihren insgesamt 38 Beiträgen den kulturellen Hintergründen, der Motivik und den theologischen sowie pädagogischen Umgangsformen der Bibelfliesen. Insofern hat man es bei dem von Gottfried Adam, Hannegreth Grundmann und Steffen Kleint herausgegebenen, mehr als 300 Druckseiten umfassenden Buch gleichermaßen mit einem Wegweiser in die Geschichte dieser „religiösen Gebrauchskunst“ zu tun wie auch mit einer Anleitung zu deren heutigem Einsatz in ganz unterschiedlichen Kontexten – von der KiTa bis zur Seniorenbildung! Der Sammelband vereint eine Reihe von vorliegenden Praxisberichten, Vorträgen und Predigten und bereichert diese durch theoretische und didaktische Einordnungen. Die Aufsätze des lesens- und empfehlenswerten Bandes wurden vier Kategorien (Zugänge, Grundlegendes, Praxis-Bausteine sowie grundlegende Materialien und Ressourcen) zugeordnet, was sich als sinnvolle Strukturierung des bunten, aber nicht disparaten Straußes an Annäherungen an die Bibelfliesen erweist, deren Motive künstlerisch der naiven Malerei zuzuordnen sind. Schwerpunkt des Buches und zugleich Beleg für dessen Untertitel („Eine pädagogische Entdeckung“) sind die 23 Praxis-Bausteine – vor allem kürzere Artikel und Erfahrungsberichte aus den Lernumgebungen „Familie und Kindertagesstätte“, „Schule und Konfirmandenarbeit“, „Erwachsenenbildung“, „Ausstellungen, Begleitprogramme und Museen“ sowie „Predigten“. Diese Beiträge stellen gleichsam Unterrichtsentwürfe dar, die zur Aneignung und individuellen Modifikation gedacht und geeignet sind. So widmet sich die Ibbenbürener Lehrerin Ann-Kristin Schlüter in einem für eine 5. oder 6. Klasse (Sekundarstufe I) recht anspruchsvollen Unterrichtsentwurf dem Gleichnis vom Splitter und vom Balken. Sie setzt für die Erarbeitung die Abbildung einer – dieses Motiv beinhaltenden – Fliese (138) ein und nähert sich darüber der Entstehung und der Funktion der Bibelfliesen. Der ostfriesische Schulpastor Andreas Scheepker präsentiert ein für dieselbe Altersstufe gedachtes Unterrichtsprojekt, das einen selbst gedrehten Bibelfliesenfilm als Ertrag erbringt: Das Standbild eines Bibelfliesenmotivs wird mit Hilfe von ausgeschnittenen Farbkopien in szenische Einzelbilder zerlegt, mit einer fest installierten Kamera fotografiert und anschließend mit einer Filmbearbeitungssoftware geschnitten (144). Dass Bibelfliesen auch der Unterhaltung dienen, thematisieren der emeritierteWiener Religionspädagoge Gottfried Adam und seine Ehefrau, die Pädagogin Renate Rogall-Adam, nicht zuletzt anhand der erwähnten Fliese mit dem Motiv „Splitter und Balken“, bei dem aus einem Auge der einen Person eine scheinbar verlängerte Augenwimper sprießt, während aus einem Auge der anderen Person ein armdicker Holzbalken hervortritt – was manche Bibelfliesenbetrachter für ein Fernrohr halten (69). Der Beitrag, der sich in seinen didaktischen Überlegungen auf Michael J. Parsons („How We Understand Art“) sowie auf Günter Lange („Umgang mit Kunst“) und Peter Biehl („Religion entdecken, verstehen, gestalten“) bezieht, präsentiert Schritte der „Bildbegegnung“ nicht nur für pädagogische Zusammenhänge, sondern auch für individuelle Wahrnehmungsprozesse (78f.).
Um Aneignung geht es letztlich auch bei der Behandlung der Frage, ob die Herstellung von Bibelfliesen im Widerspruch zum biblischen Bilderverbot steht, was eindeutig nicht der Fall war. Gottfried Adam und Marita Sporré weisen in ihrem Grundlagenbeitrag zu diesem Thema darauf hin, dass die Bibelfliesen sowohl aus lutherischer wie aus reformierter Sicht „legitime Gestaltungen evangelischer Frömmigkeit“ sind (60). Das Bilderverbot richtet sich nicht generell gegen Bilder, sondern es handelt sich dabei um die strikte Untersagung der Schaffung von Götzenbildern und Fremdgötterbildnissen sowie um das Verbot der Bilderverehrung (54). Mit Matthias Freudenberg weisen die Autoren darauf hin, dass die reformierte Kritik an religiösen Bildern und deren Entfernung aus den Kirchenräumen zugleich den „Bereich des Profanen zu ihrem neuen Ort“ gemacht hatte (56). Bibelfliesen gehören in diesen Kontext. Auch die anderen Beiträge in den Kategorien „Zugänge“ und „Grundlegendes“ (und damit die ersten hundert Seiten) im Sammelband, die sich aufgrund ihrer Entstehungszusammenhänge mitunter in einigen Annäherungen an die Bibelfliesengeschichte wiederholen, lassen sich durchaus hinter-einander „weglesen“. Die sich anschließenden „Praxis-Bausteine“ kann man hingegen auch eklektizistisch wahrnehmen und bei eigenem Bedarf zur Anregung gebrauchen. Mehrere Beiträge liefern grundlegende Informationen zur Herkunft der Bibelfliesen (z.B. 179) und zur Häufigkeit bestimmter Motive: Die häufigste Darstellung aus dem Alten Testament ist – überraschenderweise – die Szene, wie Elia von den Raben ernährt wird (1. Könige 17), die häufigste Darstellung aus dem Neuen Testament ist die Auferstehung Jesu Christi sowie die Versuchung Jesu in der Wüste (184). Den Abschluss des Sammelbandes bildet eine Reihe von hilfreichen Materialien, darunter ein Verzeichnis sämtlicher Bibelstellen, zu denen Bibelfliesen-Abbildungen existieren und die von der Projektseite www.fliesenbibel.de auch online heruntergeladen werden können (272-289), eine kommentierte Bibliografie (292-295), ein Sachregister (307-313) sowie ein Autoren- und Autorinnenverzeichnis mit Kontaktangaben (300-303). Den Auftakt zum Sammelband bildet aber eine biografische Annäherung an und mit Jan Pluis, der aufgrund seiner nun schon mehr als 50-jährigen Beschäftigung mit den Bibelfliesen in den Niederlanden und in Deutschland zum renommierten Fachmann geworden ist. Er hat bis heute rund 10.000 bemalte historische Fliesen dokumentiert (15). Mit fachkundiger Hilfe von Jan Pluis hatte das Norder Bibelfliesenteam im Jahr 2003 seine Ausstellung auf Wanderschaft schicken und 2008 die „Fliesenbibel“ veröffentlichen können, in der die 600 von Pluis dokumentierten Bibelfliesen die biblischen Geschichten auf ihre Art veranschaulichen.
Bibliografische Angaben:
Gottfried Adam, Hannegreth Grundmann, Steffen Kleint (Hg.) unter Mitarbeit von Kurt Perrey, Renate Rogall-Adam, Jürgen Schönwitz, Marita Sporré:
Bibelfliesen – eine pädagogische Entdeckung
Eine Veröffentlichung desComenius-Instituts und der Projektgruppe Kulturgut Bibelfliesen,
Münster 2015, Hardcover geb., 316 Seiten, ISBN 978-3-943410-18-1, 17,50 Euro (zzgl. Versand).
Aktueller Veranstaltungshinweis:
Buchvorstellung „Bibelfliesen – eine pädagogische Entdeckung“ im Rahmen des Projektes Kulturgut Bibelfliesen am Dienstag 13. Oktober 2015 um 19.30 Uhr im Kloster Frenswegen, Klosterstraße 9, 48527 Nordhorn.
Grußworte und Beiträge von Landessuperintendent Dr. Detlef Klahr, einem Vertreter des Comenius-Instituts Münster, von Dr. Hannegreth Grundmann und von Kurt Perrey. Zum Thema spricht Prof. em. Dr. Gottfried Adam: „Man braucht kein großes Kunstverständnis, um Bibelfliesen zu verstehen“.