Evangelische Kirchen in der DDR aus der Perspektive des Westens

Unter dem bewusst zugespitzten, die real-existierenden Verhältnisse nicht abbildenden Obertitel „Leben in der Vision des Urchristentums oder alimentierte Autarkie im Unrechtsstaat?“ veranstaltete die Evangelische Akademie Thüringen in Neudietendorf am 30.11./1.12.2012 eine Tagung zu den „Evangelische Kirchen in der DDR aus der Perspektive des Westens“, wie es im Untertitel der Veranstaltung hieß. Einige Leitfragen der Tagung lauteten: Wie wurden die evangelischen Kirchen und protestantisches Leben in der DDR von außen, aus den nichtsozialistischen Ländern Westeuropas und den USA sowie aus der Ökumene wahrgenommen? Beruhten diese Bilder auf Idealisierungen, auf eigenen politischen Erfahrungen oder auf kirchlichen Kontakten? Gab es politische Instrumentalisierungen? War es überhaupt möglich, „Kirche im Sozialismus“ von außen realistisch zu erfassen oder wurde damit einer Verharmlosung der Diktatur Vorschub geleistet? Was kann man daraus für den Umgang mit Kirchen in Diktaturen lernen? Die gut besuchte Tagung machte deutlich, dass die DDR-Geschichte kein abgeschlossenes Forschungsgebiet allein für Spezialisten ist, sondern lebendige Zeitgeschichte, nicht zuletzt durch den Austausch mit Zeitzeugen und deren Selbsthistorisierung. Die Tagung wandte den Blick von außen gleichsam über die damalige Mauer, untersuchte Bildformungsprozesse und überprüfte dabei den Realitätsgehalt westlicher und westdeutscher Perspektiven auf die DDR, wie Mitveranstalterin Katharina Kunter (Karlsruhe/Bochum) eingangs bemerkte.

Eine Reihe von Eindrücken von der Tagung bleiben haften, einige sollen kurz erwähnt werden: John P. Burgess (Pittsburgh/USA), der 1984/85 als wohl erster westlicher Student am Berliner Sprachenkonvikt studierte, beschrieb auf dem Wege einer „Ego-Histoire“ seine DDR-Eindrücke als geradezu „fromme Neugier“ auf die säkularisierte Gesellschaft der Zukunft und auf die Rolle des Evangeliums in dieser Gesellschaft. Peter Maser (Münster), der 1976 in der BRD übersiedelte, konnte seinen Blick auf die Kirchenpolitik und auf die kirchlichen Finanzen ebenfalls um die biografische Station seiner Mitarbeit in der damaligen Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ bereichern, die zahlreiche Quellen und Belege dafür liefert, dass die Partnerschaften auf Gemeindeebene die tragfähigste Verbindung zwischen den Kirchen in Ost- und Westdeutschland darstellten. Hier ging es um gemeindebezogene Projekte ohne kirchenleitende Intervention oder Moderation, sowie um das gemeinsame Feiern, bei denen nur am Rande über politische Themen gesprochen wurde. Die Bedeutung der „Alimentierung“ ostdeutscher Kirchen wurde im Anschluss an den Vortrag diskutiert, weil diese finanzielle Ausstattung zwar vieles ermöglichte, was ansonsten nicht denkbar gewesen wäre, zugleich aber dafür sorgte, dass die DDR-Kirchengemeinden kein eigenes Kirchenbild entwickelten. Nach Auffassung von Propst i.R. Heino Falcke (Erfurt) waren die brüderlichen Beziehungen auf Gemeindeebene und die theologischen Dimensionen der Partnerschaften entscheidend für die Zusammenarbeit, die sich besonders gut zu den Niederländern gestaltete, möglicherweise aufgrund ähnlicher Säkularisierungserfahrungen in beiden Ländern. Laurens Hogebrink (Amsterdam) unterstrich diese Einschätzung. Die Friedensthematik sei das wichtigste Thema im „Kalten Krieg“ gewesen, bei den Gemeindekontakten entsprechend die gemeinsame Absage an den Geist der Logik der Abschreckung. Erich Bryner (Schaffhausen) referierte über schweizerische (und auch seine persönlichen) Kontakte in die DDR, sprach vor allem aber die kritische publizistische Beurteilung der Kirchen im Kommunismus an, z.B. in der Zeitschrift „G2W – Glaube in der 2. Welt“, die die Rolle der Kirche in der DDR sowohl als „Leidende“ als auch als „Mitgestaltende“ interpretierte. Jens Murken (Bielefeld) zeigte auf, dass Gemeindepraktika westfälischer Theologiestudierender in DDR-Kirchengemeinden in den 1980er Jahren erst spät landeskirchlich akzeptiert worden waren, obwohl sie genaue Einblicke in die Lage der DDR-Kirchengemeinden vor der Wende von 1989 gaben, so dass die Westkirchen ohne Not günstige Gelegenheiten vergaben, authentische Einblicke in den kirchlichen Alltag der Christen in der DDR zu gewinnen, diesen ein erfahrungsgesättigter Partner zu sein und die Beziehungen zwischen den Kirchen und ihren Gliedern zu stärken und zu verstetigen.

Die Tagung machte deutlich, dass die DDR-Kirchengeschichte kein abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte ist. Zum einen sei es weiterhin wichtig, dass auch die Opfer der SED-Diktatur weiterhin Gehör finden mit ihren Anliegen, und dies über die Grenzen ihrer eigenen Kreise hinaus. Neben diesem konstatierten Mangel an „Anerkennungskultur“ zeige zum anderen der derzeitige Vereinigungsprozess der neuen „Nordkirche“, welche heterogenen deutsch-deutschen Erfahrungen auf kirchlichem Gebiet nicht nur von den vorpommerschen Dörfern bis hin zur Metropolregion Hamburg unter einem Dach Platz finden müssen.

Tagungsflyer:
http://www.ev-akademie-thueringen.de/Akademie/programm/pdf/2012/EAT-Flyer-Urchristentum_web.pdf

Radio-Interview mit Akademiedsirektor Prof. Dr. Michael Haspel:
http://www.erf.de/radio/erf-pop/aktuell/5865-1920

epd-Bericht vom 02.12.2012
http://www.ev-akademie-thueringen.de/Akademie/presse/pressestimmen/2012/download/12/epd-DDR-Kirchen-2012-12-02.pdf

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