Der Oberbürgermeister von Stralsund, Dr. Alexander Badrow, teilte am 20. November 2012 über die Webseite der Hansestadt Stralsund die Ergebnisse und die vorläufig gezogenen Schlüsse aus dem eingeholten Gutachten zum kulturhistorischen Wert der Stralsunder »Gymnasialbibliothek«, deren antiquarischer Verkauf heftige öffentliche Kritik nach sich zog, mit:
\“Neben der im Zusammenhang mit der Veräußerung von Büchern bekannt gewordenen Problematik des Schimmelbefalls von Archivgut im Stadtarchiv der Hansestadt Stralsund hat sich in den letzten Wochen zum Verkauf dieser Bücher eine intensive und äußerst kontrovers sowie auch emotional geführte Diskussion entwickelt.
Die dabei geäußerten Fachmeinungen stehen in deutlichem Gegensatz zur fachlichen Meinung unseres Stadtarchivs.
Ich habe deshalb zur Klärung des Sachverhaltes Prof. Dr. Nigel Palmer von der Universität Oxford und Prof. Jürgen Wolf von der Universität Marburg um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten. Dies erfolgte in enger Abstimmung mit dem Landesamt für Kultur und Denkmalpflege und dem Innenministerium M-V.
Das Gutachten liegt seit gestern Nacht vor und ist heute den beiden genannten Ministerien zur Kenntnis gegeben worden.
Die Gutachter kommen zu der Auffassung, dass es sich bei der Büchersammlung aus der alten Gymnasialbibliothek, wenn man sie als ein Ganzes betrachtet, um bedeutendes Bibliotheksgut handelt.
Außerdem trifft das Gutachten die Aussage, dass dieses Bibliotheksgut für die Kulturgeschichte der Stadt Stralsund, der Region sowie auch für Forschung und Wissenschaft einen großen Wert hat.
Somit lag eine eklatante fachliche Fehleinschätzung unseres Stadtarchives vor, die zur Veräußerung der Bücher geführt hat. Der Verkauf der Bücher war somit definitiv ein Fehler und muss rückgängig gemacht werden.
Wer Stralsund und die Entwicklung dieser Stadt kennt, weiß, dass dieser Vorgang in deutlichem Widerspruch zum bisherigen Umgang mit dem Erbe und der Geschichte unserer Stadt steht.
Die Aufarbeitung aller Fakten hat jetzt oberste Priorität. Dieser Aufklärungsprozess wird uns in den kommenden Wochen intensiv beschäftigen, zumal es neue Erkenntnisse über Sachverhalte gibt, wie den Verkauf von Dubletten, den wir derzeit noch nicht bewerten können.
Aufgrund der bekannten Fakten habe ich zwei Konsequenzen sofort gezogen:
1. Die Leiterin des Stadtarchivs wurde zunächst mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert.
2. Der Verkauf der Bücher wird rückabgewickelt.
Ich habe das Gespräch mit dem Käufer gesucht und im Ergebnis dessen kann ich mitteilen, dass seine Bereitschaft besteht, unabhängig von der rechtlichen Bewertung des Kaufgeschäftes den Kauf rückabzuwickeln. Gleichzeitig wird er uns bei der Wiederbeschaffung der bereits an Dritte verkauften Bücher unterstützen.
Senator Holger Albrecht wird zwecks Abstimmung der Modalitäten mit dem Käufer in der kommenden Woche vor Ort besprechen.
Dr. Alexander Badrow, Oberbürgermeister\“
Heftige öffentliche Kritik am Verkauf von Teilen der Stralsunder Gymnasialbibliothek an ein Antiquariat war seit Mitte Oktober geäußert geworden, nachdem Oberbürgermeister Dr. Badrow das Stadtarchiv Stralsund im Johanniskloster für die öffentliche Nutzung sperrte und en passant die Veräußerung eines Teilbestandes der ehemaligen Gymnasialbibliothek erwähnte (siehe Bericht vom 18.10.2012). Ob die jetzt gezogenen Konsequenzen die verschiedenen Sachverhalte ausreichend aufklären und die Verantwortlichkeiten in dem Fall hinreichend benennen, scheint indes fraglich.
Ein juristisches Nachspiel wird der umstrittene Bücherverkauf aus dem Stralsunder Stadtarchiv möglicherweise haben. Die Staatsanwaltschaft Stralsund hat nach Informationen von NDR 1 Radio MV vom 21. November 2012 Vorermittlungen wegen des Verdachts der Untreue aufgenommen. Die Staatsanwaltschaft prüft die Anzeige eines Lübecker Rechtsanwalts und Archiv-Kenners.
Der Anwalt wirft der Verwaltungsspitze vor, sie habe zum Nachteil der Stadt gehandelt. Einzelne Exemplare der mehr als 6.000 verkauften Bücher seien allein bis zu 45.000 Euro wert – das ist knapp die Hälfte des insgesamt erzielten Erlöses von 95.000 Euro. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft bestätigte dem NDR den Eingang der Strafanzeige.
Der VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. warnt indes vor einer Vorverurteilung der suspendierten Stralsunder Stadtarchivarin. In einem Brief an den Stralsunder Oberbürgermeister fordert der VdA eine Offenlegung aller Fakten rund um den illegalen Verkauf der historischen Gymnasialbibliothek. In dem Brief heißt es: "Kein Archiv würde ohne Not oder äußeren Druck wertvolles Kulturgut veräußern. Auftrag und Selbstverständnis der Archive, Entscheidungen, Handlungen und Erinnerungen als einzigartiges, unersetzliches kulturelles Erbe zu sichern und von Generation zu Generation weiterzugeben, stehen dem diametral entgegen. Für uns gilt, dass jeder in der Stadt Stralsund, der von dem Verkauf wusste bzw. ihm zugestimmt hat, zunächst eine Mitverantwortung trägt. Es sind dabei vor allem die politischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen und zu fragen, inwieweit den Kulturinstitutionen – insbesondere dem Stadtarchiv – Vorgaben gemacht wurden oder ob es sogar angewiesen wurde, Beiträge zur Finanzkonsolidierung zu leisten. Nachdrücklich weist der VdA darauf hin, dass ein Ausverkauf von Kulturgut kein Weg zur Haushaltssanierung sein darf und grundsätzlich abzulehnen ist.
Die politische Verantwortung für diesen Vorgang kann nicht einfach auf das Stadtarchiv abgewälzt werden." Das Schreiben an den Oberbürgermeister enthalte Fragen, so teilt der Berufsfachverband in einer Pressemitteilung vom 28. November 2012 mit, die aus seiner Sicht dringend zu klären seien, u.a. warum der Verkauf der Bücher trotz eindeutiger Rechtslage realisiert wurde.
Sorge bereitet dem VdA der nachlässige Umgang mit dem zu bewahrenden historischen Kulturgut. Die politischen Verantwortungsträger müssen sich – so der VdA – selbst bewusst machen, dass Stadtarchive das Gedächtnis der Gesellschaft, ein Garant für Rechtssicherung und ein lebendiger Geschichtsort der Kommunen sind. "Muss ein Stadtarchiv erst unter tragischen Bedingungen einstürzen oder sich ein Skandal wie in Stralsund ereignen, bis wieder die zentrale Bedeutung des historischen Kulturgutes für die Stadtgesellschaft in das Bewusstsein der Verantwortungsträger und der allgemeinen Öffentlichkeit rückt?"
Die politischen Verantwortungsträger der Hansestadt Stralsund, die durch den Rückkauf der Historischen Gymnasialbibliothek den außerordentlichen Wert nun anerkannt haben, seien nach Auffassung des VdA gerade jetzt in der Pflicht, sich zu ihrer Institution Stadtarchiv zu bekennen und Maßnahmen zu ergreifen, wie z.B. die Bekämpfung des Schimmelpilzbefalls, damit das Stadtarchiv Stralsund weiterhin den Bürgern und der Forschung zur Verfügung steht!