Der Titel einer Installation von Michael Rakowitz auf der dOCUMENTA (13) leitet sich von einem afghanischen Sprichwort über Zusammenarbeit ab: „Wieviel Staub kann ein einzelner Reiter schon aufwirbeln?“ Präsentiert werden durch Brand stark beschädigte Bücher – Folge eines Bombenangriffs der British Royal Air Force, der im September 1941 die Landesbibliothek Kassel, gegründet im 16. Jahrhundert von Landgraf Wilhelm IV. und seit 1779 im heutigen Museum Fridericianum beheimatet, zerstörte. 400.000 Bände (etwa 90 Prozent des Bestands) gingen verloren, der Rest konnte mit Wasserschaden gerettet werden.
Mit Hilfe afghanischer und italienischer Steinmetze ließ Rakowitz auf der Grundlage dieser Überlieferung Nachbildungen einer Anzahl verlorener Bände aus Travertin, einem Stein aus den Bergen von Bamiyan, anfertigen. Dort wurden vor einigen Jahren monumentale Buddha-Statuen von den Taliban gesprengt.
Die steinernen Bücher wecken Assoziationen mit Grabsteinen. Die verlorenen Bücher und die Bücher aus Stein werden zusammen mit dem Bruchstück eines Meteoriten, der 1954 auf die Erde traf, Fragmenten der zerstörten Buddhas und einer sumerischen Keilschrift-Tontafel aus der irakischen Antike (2.200 v.Chr.), die durch ein Feuer zufällig erhalten blieb, ausgestellt. Rakowitz setzt sich zeit- und ortsübergreifend mit der Zerstörung von Büchern und der Verwüstung von Kulturerbe und Menschenleben auseinander.
Abb.: Michael Rakowitz, „What dust will rise?“ Die theologischen Handschriften der Hanauer Konsistorialbibliothek auf der dOCUMENTA (13) im Museum Fridericianum als Teil der Installation (Foto: Landeskirchliches Archiv Kassel 2012) – Die zwanzig durch Feuer stark beschädigten theologischen Handschriften der Hanauer Konsistorialbibliothek sind auf der dOCUMENTA (13) im Museum Fridericianum als Teil der Installation von Michael Rakowitz zu betrachten: „Books damaged by fire and deemed too unimportant to restore after bombing oft he Fridericianum, 1941“. Im Vordergrund sind einige Bände aus Travertin, einem Stein aus den Bergen von Bamiyan, zu sehen.
Die bewegte Geschichte der Konsistorialbibliothek Hanau lohnt, noch etwas mehr Staub aufzuwirbeln. Die Landesbibliothek befand sich bis 1941 in einem Gebäude am Friedrichsplatz (heute Museum Fridericianum). 400.000 Bände sind bei einem Bombenangriff Anfang September 1941 in Flammen aufgegangen. Von dieser Zerstörung betroffen war auch die Konsistorialbibliothek Hanau, deren Standort mit Vertrag vom 1. März 1926 als Leihgabe der Evangelischen Landeskirche in Hessen-Cassel vom Landeskirchenamt im Renthof 5 in die Landesbibliothek verlegt worden war, um sie der Öffentlichkeit besser zugänglich zu machen.
Die Hanauer Konsistorialbibliothek (etwa 4.500 bis 5.000 Bände vorwiegend theologischen Inhalts) hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine andere Reise hinter sich. Sie wurde im Rahmen der Vereinigung der drei Konsistorien Kassel, Marburg und Hanau zu einem Gesamtkonsistorium Kassel, die 1873 stattfand, im darauf folgenden Jahr nach Kassel in das Landeskirchenamt im Renthof 5 verbracht.
Nach dem Brand vergingen siebzig Jahre. Erst bei der Vorbereitung einer Installation für die dOCUMENTA (13) rückten die zerstörten Handschriftenbände wieder in das Bewusstsein. Der amerikanische Künstler Michael Rakowitz wählte sie nach einem Hinweis von Dr. Konrad Wiedemann, dem Leiter der Handschriftenabteilung in der Murhardschen Bibliothek, für ein documenta-Projekt aus. Die mühsame Recherche nach den Titeln der teilweise verbrannten Handschriften brachte auch den Leihvertrag zwischen Landeskirchenamt und Landesbibliothek aus dem Jahr 1926 wieder an das Tageslicht. So war nun innerhalb kürzester Zeit ein Leihvertrag zwischen der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Geschäftsführung der dOCUMENTA (13) vorzubereiten und abzuschließen. Die Übergabe an einen Vertreter der documenta fand am 16. Mai 2012 statt.
Genug Staub aufgewirbelt, nach dem Ende der dOCUMENTA (13) werden die Handschriften im Landeskirchlichen Archiv Kassel deponiert.
Bettina Wischhöfer