Staatsministers Bernd Neumann würdigte in seiner Rede die Arbeit von Marianne Birthler als Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Zur Amtseinführung von Roland Jahn als neuem Bundesbeauftragten betonte Staatsminister Neumann, dass es für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen keinen Schlussstrich geben darf.
Rede von Kulturstaatsminister Bernd Neumann zur Verabschiedung von Marianne Birthler und Amtseinführung von Roland Jahn:
»In einem Interview mit dem Deutschlandradio antwortete Marianne Birthler vor kurzem auf die Frage, ob die Stasi-Unterlagenbehörde – also die BStU – Deutschland verändert habe, folgendes: "Die Möglichkeit des Aktenzugangs ist – glaube ich – sehr wirkmächtig gegen die Tendenz, die Decke des Vergessens über die Vergangenheit zu breiten. Das halte ich für das Wichtigste." Dieser Satz ist in seiner Gradlinigkeit typisch für Marianne Birthler. Sie hat diese Eigenschaft schon 1992 bewiesen, als sie sich – nach kaum zwei Jahren – aus dem Kabinett Stolpe zurückzog und ihr Ministeramt aufgab.
Schon seinerzeit gehörten Sie, liebe Marianne Birthler, zu denen, die die Vergangenheit der SED-Diktatur auf keinen Fall ruhen lassen wollten – und der diese Vergangenheit selbst keine Ruhe ließ. In diesem Bewusstsein haben Sie in den letzten zehn Jahren die Stasi-Unterlagenbehörde geführt. Mit Recht verbindet man heute Ihren Namen mit der Aufarbeitung. Es braucht Rückgrat, Glaubwürdigkeit und einen klar ausgerichteten Kompass, um eines der sicher auch menschlich schwierigsten Ämter zu leiten, das wir in der Bundesrepublik haben. Bei der Stasi-Unterlagenbehörde geht es ja nicht nur um die fortlaufende Aktenerschließung und den Aktenzugang – auch wenn dies Kernaufgaben sind, von denen wir nicht abrücken werden. Es geht auch um Aufklärung in einem weiteren Sinn.
Wir sehen heute, über 20 Jahre nach dem Ende der DDR, dass es immer noch, oder vielmehr leider wieder Tendenzen gibt, die Diktatur zu verharmlosen und den DDR-Alltag in ein rosarotes Licht zu stellen. Das können wir nicht zulassen! Die SED-Diktatur darf nicht mit Hilfe der Unwissenheit und des Verleugnens weich gespült werden! Eines der wichtigsten Ziele der Aufarbeitung unserer Geschichte ist es, insbesondere den Jüngeren zu vermitteln, dass das Leben in der Diktatur ein Leben in Bevormundung und Entrechtung war. Es ist auch ein Verdienst von Marianne Birthler, dass unter ihrer Leitung die Bildungsarbeit der BStU verstärkt und auf die nachkommende Generation fokussiert wurde.
Meine Damen und Herren,
mit der Entscheidung, eine eigene Stasi-Unterlagenbehörde zu gründen, bewegte sich Deutschland auf Neuland – historisch wie juristisch. Heute ist sie Vorbild in ganz Europa und für die Demokratiebewegungen in der Welt. Kein Land hatte jemals zuvor direkt nach dem Untergang einer Diktatur die Hinterlassenschaften einer Geheimpolizei deren Opfern zugänglich gemacht. Die damalige Entscheidung beruhte entscheidend auf dem Engagement der Bürgerrechtsbewegung in der DDR und trug einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Aufklärung unmittelbar Rechnung. Dieses Bedürfnis ist auch 20 Jahre später ungebrochen. Rund 90.000 Anträge auf Akteneinsicht allein im vergangenen Jahr sprechen eine deutliche Sprache. In den letzten 20 Jahren wurden insgesamt rund 1,8 Millionen Bürgeranträge auf Akteneinsicht gestellt.
Unverändert ist die Frage nach individueller Schuld und Verantwortung aktuell; wollen Opfer und Betroffene Klarheit in ihren Lebensweg bringen. Das ist ein wesentlicher Grund, weshalb wir das Stasi-Unterlagengesetz derzeit erneut novellieren. Wichtige Punkte sind dabei die generelle Verbesserung der Zugangsregelungen sowie – und das ist aus meiner Sicht zentral – die Verlängerung der Möglichkeit, Angehörige des öffentlichen Bereichs zu überprüfen. Dazu zählen auch Regierungsmitglieder und Abgeordnete.
Es kann gar keine Frage sein: Für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen darf es keinen Schlussstrich geben. Sie ist noch längst nicht beendet. Es ist selbstverständlich, dass den Besonderheiten dieser Unterlagen auch zukünftig Rechnung getragen wird, da sie rechtsstaatwidrig, oft aufgrund von Bespitzelung, Zwang und brutalen Verhören entstanden sind. Der Bundestag wird zu gegebener Zeit entscheiden, wie diese Aufgaben später einmal vom Bundesarchiv übernommen werden können. Die BStU wird aber erst einmal für längere Zeit ihre Arbeit fortsetzen.
Heute gilt es Marianne Birthler aus ihrem Amt als Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zu verabschieden.
Liebe Frau Birthler, Sie haben eine öffentliche Einrichtung mit rund 2.000 Mitarbeitern 10 Jahre lang verantwortungsvoll geleitet. Sie, liebe Frau Birthler, waren immer für Ihre Mitarbeiter da und haben sich vor sie gestellt, wenn man diese aus Ihrer Sicht ungerechtfertigt kritisierte. Natürlich kommen in einer so großen Behörde auch Pannen vor. Sie mussten fragwürdige Personalentscheidungen bewältigen, die vor Ihrer Amtszeit getroffen wurden.
Und, meine Damen und Herren, lassen Sie mich gerade an dieser Stelle eine Bemerkung zu den Beschäftigten der BStU machen. Die übergroße Mehrheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leistet seit vielen Jahren eine engagierte, glaubwürdige Arbeit und hat zur Aufarbeitung unserer Geschichte einen unverzichtbaren Beitrag geleistet. Dafür sage ich Ihnen allen an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön! Sie, liebe Frau Birthler, haben mit Umsicht, Klugheit, Unaufgeregtheit, Kompetenz und vor allem mit großem, auch innerem Engagement Ihre Aufgabe wahrgenommen. Ihre moralische Rigorosität hat mir immer gefallen. Ich habe gern mit Ihnen zusammengearbeitet. Im Namen der Bundesregierung danke ich Ihnen herzlich.
Meine Damen und Herren,
die BStU wird auch weiterhin in guten Händen bleiben. Mit Roland Jahn haben wir einen neuen Leiter gefunden, der, wie auch Marianne Birthler, mit seiner Biographie für das bürgt, was die BStU leisten soll. Sein Name steht seit vielen Jahren für Opposition und Widerstand gegen das DDR-Regime. Nach seiner brutalen Zwangsausbürgerung aus der DDR 1983 hat er als Journalist immer wieder über die Situation in der DDR berichtet: packend und erschütternd. Ich freue mich, dass das Bundeskabinett am 30. November 2010 meiner Empfehlung folgte, Roland Jahn dem Deutschen Bundestag als nunmehr dritten Bundesbeauftragten vorzuschlagen. Es war ein wichtiges Signal, dass der Deutsche Bundestag am 28. Januar dieses Jahres Roland Jahn – fraktionsübergreifend – mit überwältigender Mehrheit gewählt hat. Dies ist ein Vertrauensvorschuss auf seine Arbeit, den er, da bin ich mir sicher, auch einlösen wird.
Lieber Herr Jahn, Sie haben nie aufgehört, das Unrecht anzuprangern. Wenn ich so sagen darf: Nicht umsonst wurden Sie bis zum Ende der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit bespitzelt. Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn man als Verfolgter einem Stasi-Mitarbeiter gegenübersitzt. Ich bin mir darum sicher, dass Sie mit der gebotenen Sensibilität dazu beitragen werden, dass ehemalige Täter und Verstrickte nicht auch heute wieder über die Opfer von damals befinden können. Das gilt insbesondere für die in der Vergangenheit wie auch kürzlich bekannt gewordenen Fälle, nach denen es Mitarbeiter der BStU gibt, die früher für das MfS tätig waren. Diese Sachlage ist schwer nachvollziehbar, schon gar nicht für Stasi-Opfer. Die arbeits- und dienstrechtlichen Vorschriften setzen für mögliche Konsequenzen leider strikte Grenzen.
Der Ruf der Stasi-Unterlagenbehörde darf durch solche Einzelfälle keinen Schaden nehmen. Ich zähle hier auch auf Roland Jahn, der – so, wie wir ihn kennen – immer auch unbequeme Wahrheiten ansprechen und schlicht nicht locker lassen wird. Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Jahn, für Ihre zukünftige Aufgabe viel Kraft und Energie. Ich bin mir schon heute sicher: Aus der Birthler-Behörde, die zuvor eine Gauck-Behörde war, wird recht schnell eine Jahn-Behörde werden. Auch Ihr Name wird in kürzester Zeit ein Synonym für die Aufarbeitung der SED-Diktatur – in einer Reihe mit Ihren verdienten Vorgängern!«
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Quelle: Bundesregierung, Pressemitteilung: Rede von Kulturstaatsminister Bernd Neumann zur Verabschiedung von Marianne Birthler und Amtseinführung von Roland Jahn, 14.3.2011