Alle Diakone in Bethel, so war es in der „Geschichte der evangelischen Posaunenbewegung Westfalens“ nachzulesen, seien bis 1937 in die SA eingetreten. Lange Zeit hat sich der Mythos der "Braunen Brüder" in Nazareth denn auch hartnäckig gehalten. Jahrelang hat sich der Historiker Reinhard Neumann mit dem Thema befasst. Das Ergebnis seiner Recherchen ist jetzt als Buch erschienen: Im Vergleich zu anderen diakonischen Gemeinschaften in Deutschland seien demnach nur wenige Nazareth-Diakone der NSDAP beigetreten. 1939 habe Nazareth-Vorsteher Pastor Paul Tegtmeyer mitgeteilt, dass von 810 Nazareth-Brüdern zehn Mitglied in der SA seien.
„Es geisterten so viele Mutmaßungen und Legenden über die Haltung der Brüder der Westfälischen Diakonenanstalt Nazareth zum Nationalsozialismus umher, dass es unumgänglich war, darüber zu forschen und die Ergebnisse auf wissenschaftliche Füße zu stellen“, sagt Pastor Bernward Wolf, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und zuständig für die diakonischen Gemeinschaften Nazareth und Sarepta. In Absprache mit der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel und der Nazareth-Leitung erteilte der Vorstand daraufhin dem Dozenten Reinhard Neumann den Auftrag, die historische Entwicklung der Brüderschaft in der Zeit von 1914 bis 1954 wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten.
Pastor Johannes Kuhlo, Vorsteher der Diakonenanstalt Nazareth, habe tiefgreifende Veränderungen für die Nazareth-Diakone in Bethel eingeleitet. So habe er etwa die zölibatäre Lebensform gelockert, die Brüderschaft gewann neben der Sarepta-Schwesternschaft größere Eigenständigkeit. „Die männliche Diakonie in Bethel wurde 1877 als Hilfsinstrument der Diakonissen gegründet. Diakone wurden dort eingesetzt, wo das Schamgefühl der Diakonissen verletzt wurde, zum Beispiel in der Pflege männlicher Patienten“, erläutert Reinhard Neumann. Die Diakonissen hatten das Sagen, die Diakone mussten sich – entgegen dem damaligen Rollenverständnis der Geschlechter – unterordnen, so Neumann.
Politisch habe Johannes Kuhlo national-chauvinistisch gedacht. „In seiner Person mischte sich die pietistisch-erweckte Bibelfrömmigkeit seiner Ravensberger Heimat mit der fast schon sakral anmutenden Kaiserverehrung des wilhelminischen Zeitalters“, kommentiert Reinhard Neumann in seinem Buch „Die Westfälische Diakonenanstalt Nazareth 1914–1954“. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1918 und dem Zusammenbruch des Kaiserreiches habe Kuhlo die „Judensippe“ und die „Spartakisten“ als Schuldige für den „kommunistischen, gottlosen Umsturz“ ausgemacht. Seine glühende Verehrung für den Kaiser habe er nahtlos auf Adolf Hitler übertragen.
Kuhlos Nachfolger Pastor Paul Tegtmeyer, der von 1923 bis 1954 das Amt des Vorstehers in Nazareth innehatte, habe gegen den Nationalsozialismus eine tiefe Abneigung gehegt. „Wir arbeiten nicht für das Dritte Reich, sondern für das Reich Gottes“, erinnerte er die Diakone, die Sympathie für die Nazi-Ideologie aufbrachten. Vor allem jüngere Brüder, die ihren Dienst nicht in Bethel versahen, suchten nach Orientierung. Die Propaganda versprach ihnen ein positives Christentum. „Das kann so schlecht nicht sein“, meinten sie. Doch Pastor Tegtmeyer sei stets kritisch geblieben. Reinhard Neumann ist überzeugt: „Tegtmeyer hat die Brüderschaft in ihrer Gesamtheit durch die Zeit des Nationalsozialismus gerettet.“
Paul Tegtmeyer und seine Frau Maria standen an der Spitze der Hierarchie in der Diakonenanstalt Nazareth. Die Brüder redeten sie mit Papa und Mama an. Mit strengen, patriarchalischen Strukturen hätten sie es geschafft, die Mitglieder der „Nazareth-Familie“ durch die Anfeindungen und Verführungen jener Zeit zu manövrieren. 1939 meldete Tegtmeyer auf Anfrage der Deutschen Diakonenschaft, dass von 810 Nazareth-Brüdern zehn Mitglied in der SA seien. Im Archiv der Stiftung Nazareth hat Reinhard Neumann Quellenmaterial erschlossen, das zum Teil erstmalig ausgewertet wurde und für die Zeit von 1914 bis 1954 neue Erkenntnisse liefert. Viele hundert Briefe hat er gelesen. Besonders bewegt hätten ihn die Schilderungen der Soldatenbrüder im Zweiten Weltkrieg.
In größter seelischer Not schrieben sie an Pastor Tegtmeyer von den Gräueltaten, die sie erlebten oder die ihnen zu Ohren kamen. „Hier im Krankenhaus habe ich Gelegenheit, in einen Abgrund von Blutschuld zu blicken, die wir auf uns geladen haben, dass ich mich manchesmal frage, wie kann Gott noch mit uns sein?“, schrieb ein Diakon, der als Krankenpfleger in einem Lazarett in Posen diente. Nach Kriegsende musste Paul Tegtmeyer seine ganze Kraft aufbringen, um die desillusionierten und traumatisierten, heimatvertriebenen oder aus langer Gefangenschaft nach Hause kehrenden Brüder in die Nazarethfamilie wiedereinzugliedern. „Das große Verdienst des ehemaligen Vorstehers liegt darin, dass er es geschafft hat, im Nationalsozialismus die Einheit Nazareths zu wahren und ein Abdriften der Gemeinschaft zu den völkisch-nationalistischen Deutschen Christen zu verhindern“, betont Bernward Wolf. Das Buch „Die Westfälische Diakonenanstalt Nazareth 1914 – 1954, Jahrzehnte der Krise“ ist im Luther-Verlag erschienen und kostet 24,90 Euro.
Info:
Reinhard Neumann
Die westfälische Diakonenanstalt Nazareth 1914–1954
Jahrzehnte der Krise
Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, Band 36
240 Seiten, Paperback, Format 23 x 15,5 cm
€ 24,90 [D]
ISBN 978-3-7858-0453-7
Quelle: EKvW, Nachrichten aus der Evangelischen Kirche von Westfalen, 7.9.2010