Archivare als Datendetektive

Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland stellten 1990 viele Behörden der DDR ihre Arbeit ein und hinterließen nicht nur Aktenberge, sondern auch elektronisch gespeicherte Daten. Ihre Auswertung im Koblenzer Bundesarchiv läuft noch immer. "Magnetbänder wurden noch viele Jahre nach der Wiedervereinigung gefunden. In Kellern und auf Dachböden der früheren Ämter bis zum Jahr 2000", weiß Andrea Hänger aus den Erzählungen ihrer Vorgänger. Die promovierte Archivarin arbeitet seit zehn Jahren für das Bundesarchiv und leitet das Referat elektronische Archivivierung.

Unter den nach der Wiedervereinigung vom Bundesarchiv aus DDR-Rechenzentren übernommenen Daten waren auch brisante Dateien, wie den Zentralen Kaderdatenspeicher der DDR-Regierung. Er enthält Biografien von mehr als 600.000 DDR-Führungskräften. Besonders ergiebig für die Forschung ist der "Datenspeicher Gesellschaftliches Arbeitsvermögen" mit Informationen über den kompletten beruflichen Werdegang von mehr als sieben Millionen DDR-Bürgern.

Eine besondere Herausforderung stellen für das Bundesarchiv Codierungen und Verschlüsselungen dar. Manchmal gaben ehemalige Programmierer ihr Knowhow preis, vor allem aber half ein pensionierter Wissenschaftler "aus der Frühzeit der EDV", der alle Tricks kannte, so Archivarin Hänger. Erst 1993 kamen zwei weitere Mitarbeiter und der erste eigene PC hinzu. Später wurden einige DDR-Computer vom Typ Robotron angeschafft, um das spezielle Diskettenformat lesen zu können.

Etliche Daten konnten mittlerweile gesichert werden, vieles – Volkszählungen, Todesursachen, Gesundheitsstatistiken – wartet noch auf die historische Auswertung. Joachim Rausch, Mitarbeiter im Bundesarchiv, hat beispielsweise in monatelanger Arbeit 7,3 Millionen Datensätze, die jeweils den beruflichen Werdegang eines DDR-Bürgers beschreiben, mit Hilfe von 60 Schlüsseltabellen in eine moderne Datenbank überführt. So können Anfragen zur Rentenversicherung mit einer einfachen Abfrage in Sekundenschnelle bearbeitet werden. Als nächstes will Rausch Häftlingsdatei in ähnlicher Weise leicht verfügbar machen. Doch nicht alles wird erforscht: Datenmaterial über "Gemüse unter Plaste und Glas" oder "Schlachtvieh ohne Schlachtgeflügel", dafür lohne der Aufwand nicht, so Andrea Hänger.

Links:

Andrea Hänger: Keeping electronic records accessible – how the Federal Archives of Germany preserves the digital heritage of the German Democratic Republic: a case study
http://ec.europa.eu/transparency/archival_policy/dlm_forum/doc/20_haenger_06-10-05pm.pdf

Ulf Rathje: Archivierung von DDR-Daten (Historical Social Research, Vol. 28 — 2003 — No. 1/2, 57 – 72)
http://www.rhein-zeitung.de/cms_media/module_ob/0/158_1_ratje99.pdf

Dietmar Remy: Datenfriedhof oder Füllhorn für die DDR-Forschung (Historical Social Research, Vol. 28 — 2003 — No. 1/2, 73 – 107)
http://www.rhein-zeitung.de/cms_media/module_ob/0/159_1_remy_hsr2003_564.pdf

Kontakt:
Bundesarchiv
Potsdamer Straße 1
56075 Koblenz
Telefon: 0261/505-0
Fax: 0261/505-226
koblenz@bundesarchiv.de
www.bundesarchiv.de

Quelle: Jochen Magnus, Rhein-Zeitung, 31.7.2010

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