Über 70 Vertreter aus Verwaltung, Forschung und Archiven kamen am 1. Juni 2010 in der Abteilung Rheinland des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen zusammen, um über die Zugänglichkeit und den Quellenwert von Verschlusssachen zu diskutieren. Tausende solcher Unterlagen lagern noch in den Registraturen des Verfassungsschutzes des Bundes und der Länder, bei der Polizei und in den Justizbehörden. Die Modalitäten ihrer Abgabe an die staatlichen Archive sind in vielen Fällen rechtlich und organisatorisch unzureichend geklärt. Strenge normative Vorgaben und aufwändige Verfahren erschweren oftmals die Nutzung und Auswertung der Unterlagen in den Behörden wie in den Archiven.
Foto: Der Freiburger Historiker Josef Foschepoth und die Leiterin des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen Mathilde Koller (Foto: Landesarchiv NRW)
Nach einer Begrüßung durch den Leiter der Abteilung Rheinland des Landesarchivs NRW, Frank M. Bischoff, widmete sich der erste Teil der Tagung dem Quellenwert von Verschlusssachen für die Zeitgeschichte. Der Journalist Wolfgang Buschfort (Bocholt) gab in seinem Vortrag einen Überblick über die Anfänge des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen. Er zeigte auf, wie der Verfassungsschutz zusammen mit der britischen Besatzungsmacht, teilweise aber auch an der Besatzungsmacht vorbei und mit eigenen Vorstellungen der Landesregierung aufgebaut wurde; der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen habe als Muster und Vorbild für einen Verfassungsschutz auf Bundesebene und in den anderen Ländern gedient. Buschfort, der seine Ergebnisse auch in einer größeren Publikation veröffentlicht hat, konnte ausgiebig Quellen des Verfassungsschutzes selbst nutzen, in dessen Auftrag er seine Untersuchung erarbeitete; Hindernisse bei der Zugänglichkeit von Quellenmaterial gab es in diesem Fall kaum, nachträgliche Anonymisierung und Streichungen im fertigen Manuskript nur ganz selten.
Auch der zweite Referent, der Historiker Josef Foschepoth (Freiburg), stützte sich in seinem Vortrag über das Spannungsverhältnis von Staatsschutz und Grundrechten in der Adenauerzeit in starkem Maße auf eine Auswertung von Geheimakten. Foschepoth vertrat die These, dass in der Interessenabwägung zwischen dem Schutz der Grundrechte und dem Schutz des Staates, letzterer in der Frühzeit der Bundesrepublik überwogen habe. Der Staat sei nicht von der Demokratie, sondern die Demokratie vom Staat her gedacht worden. Foschepoth belegte seine These anhand zahlreicher Beispiele für die Beobachtung und Verfolgung vor allem linksextremer Personen und Organisationen durch den Verfassungsschutz und die Justiz; die ergriffenen Maßnahmen hätten vielfach in einem Missverhältnis zum eigentlichen Gefährdungspotential der betroffenen Gruppen gestanden und vorrangig der Formierung und inneren Stabilisierung des westdeutschen Staates in der Epoche des Blockbildung und des Kalten Krieges gedient.
Die Situation rechtsextremistischer Gruppierungen in dieser Phase bundesrepublikanischer Geschichte thematisierte Uwe Schimnick (Osnabrück) am Beispiel der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS e.V. (HIAG). Für die interne Organisation und die personelle Situation dieses 1951 gegründeten Verbandes, nicht zuletzt auch für die Frage nach der Herausbildung und Pflege rechtsextremer Netzwerke, bildeten die Akten des Verfassungsschutzes mit ihren Beobachtungsberichten Schimnick zufolge eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Quelle. Die Chancen und den Erkenntnisgewinn einer differenzierenden Betrachtung extremistischer Organisationen und Randgruppen durch Einbeziehung und Auswertung der Akten des Verfassungsschutzes illustrierte schließlich auch Jens Niederhut (Landesarchiv NRW, Düsseldorf) in seinem Referat über die Ferienaktion der DDR „Frohe Ferien für alle Kinder“. Bis 1961 nutzten jährlich mehrere Tausend westdeutsche Kinder die Möglichkeit, zu Ferienaufenthalten in der DDR (Höhepunkt der Aktion 1955 mit 55.000 Teilnehmern). Organisiert wurde die Aktion von einer Arbeitsgemeinschaft, die politisch der KPD nahe stand und mit ihr kooperierte. Auch wenn damit aus Sicht der Organisatoren die Ferienaktion vor allem dem propagandistisch-ideologischen Ziel einer Mobilisierung und eines Ausbaus des kommunistischen Milieus in der Bundesrepublik diente, greift die einfache Deutung der Arbeitsgemeinschaft als kommunistische Tarnorganisation zu kurz. Bei weitem nicht alle Mitwirkenden waren Mitglieder der KPD; in vielen Fällen waren – wie gerade auch die genaue Lektüre der Akten des Verfassungsschutzes deutlich macht – starke karitative Impulse ausschlaggebend für eine Beteiligung an der Ferienaktion, die sich ihrerseits beschleunigend auf den Auf- und Ausbau des Ferienhilfswerks in Nordrhein-Westfalen auswirkte.
Im zweiten Teil der Tagung stand die Frage nach der Zugänglichkeit von Verschlusssachen für die Forschung im Mittelpunkt. Der Journalist Georg Bönisch (Düsseldorf) und der Historiker Foschepoth diskutierten auf dem Podium mit dem Archivar Michael Hollmann vom Bundesarchiv (Koblenz) und der Leiterin des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen Mathilde Koller; die Moderation der Diskussion übernahm Uwe Zuber vom Landesarchiv NRW. Koller erläuterte im Rahmen der Diskussion das Modell der Zugänglichkeit von Akten des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen; das Verfahren sieht fallbezogen jeweils eine Sicherheitsüberprüfung des Antragstellers und eine genaue Prüfung der beantragten Unterlagen durch den Verfassungsschutz vor. Da auf diese Weise zumindest ein Großteil der VS-Unterlagen für die Forschung zugänglich gemacht werden kann, unterstützte und empfahl auch Zuber die nordrhein-westfälische Lösung als ein sinnvolles und zugleich pragmatisches Verfahren, um bei Anerkennung und Berücksichtigung berechtigter Sicherheitsinteressen des Landes trotzdem eine Zugänglichkeit zu den Unterlagen für die Forschung zu gewährleisten; vor allem jenen Bundesländern, die bislang keine Regelungen über die Zugänglichkeit von VS-Unterlagen besäßen, könne das Verfahren aus Nordrhein-Westfalen durchaus empfohlen werden. Forschepoth und vor allem Bönisch forderten dennoch langfristig eine liberalere Regelung für die Benutzung von VS-Schriftgut. Zu diesem Zweck sei es wünschenswert, wenn VS-Unterlagen generell vor der Übergabe an das Archiv herabgestuft werden könnten bzw. – wie von Bönisch gefordert – die VS-Einstufung automatisch nach einer Frist von 30 Jahren erlöschen würde. Koller, die Verständnis für eine solche Forderung zeigte, machte deutlich, welche praktischen und rechtlichen Schwierigkeiten einer liberaleren Regelung entgegenstehen. Zum einen seien die Sicherheitsinteressen (z. B. der Schutz der Informanten) zu gravierend, als dass eine pauschale Freigabe nach einem Fristenmodell zu verantworten sei; zum anderen seien die personellen Ressourcen der Behörden nicht ausreichend, um in großem Umfang Unterlagen vor Abgabe ins Archiv zu prüfen und zu deklassifizieren; auch enthielten die Akten umfangreiches Material „befreundeter Dienste“ und militärischer Stellen des Auslandes, die nach den bisherigen Erfahrungen kaum bereit und in der Lage seien, in eine Herabstufung von Unterlagen einzutreten. In der Bilanz blieb es deshalb bei unterschiedlichen Positionen auf Seiten der Behörden und der Forschung. Trotz dieser Unterschiede zeugte jedoch die Diskussion von einem ausgeprägten gegenseitigen Verständnis und einer großen Bereitschaft zur Suche nach pragmatischen Lösungen im Einzelfall. Auf dieser Basis können weitere Gespräche aufbauen.
In seinem Schlusswort würdigte der Präsident des Landesarchivs NRW, Wilfried Reininghaus, die Tagung als eine archivische „Sternstunde“ und dankte allen Mitwirkenden und Zuhörern. Das wichtige Thema der Verschlusssachen sei zum ersten Mal ausführlicher innerhalb der Fachgemeinschaft der Archivarinnen und Archivare diskutiert worden; die Teilnahme zahlreicher Vertreter anderer Landesarchivverwaltung zeige, welcher Diskussionsbedarf auf diesem Feld bestehe.
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Quelle: LAV NRW/Meinolf Woste, 2.6.2010