„Treffen sich Archivare, Bibliothekare, Museologen und Informatiker zu Weiterbildung und Erfahrungsaustausch…“ Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte dies ein Kurzwitz gewesen sein können, denn die gegenseitige Abgrenzung wurde nicht selten gehegt und gepflegt. Und allzu oft wurde (und wird leider noch immer) die Meinung kolportiert, es sei geradezu unmöglich zwischen Kulturwissenschaftlern auf der einen und IT-Spezialisten auf der anderen Seite, vernünftig zu kommunizieren, da die gemeinsame Sprachbasis fehle. Die Wirklichkeit sieht anders aus, denn diese Berufsgruppen eint aufgrund des technologischen Wandels mittlerweile ein gemeinsamer Problemgegenstand: Der Umgang mit einer stetig wachsenden Zahl ausschließlich elektronisch vorliegender Informationen und der gesellschaftliche Auftrag, diese verlustfrei und authentisch in die nächsten Generationen zu transferieren. Unterschiede bestehen dabei im Zugang und in der Herangehensweise an dieses Problem, die jedoch sehr wohl kommunizierbar sind. Einerseits lassen sich natürlich Divergenzen im Verständnis nach wie vor ebenso wenig leugnen, wie es andererseits zunehmend deutlich wird, dass sich in der Praxis terminologische Gegensätze oftmals als Synonyma desselben Problemgegenstandes erweisen. Fachliche Grenzen sind im Begriff zu verschwimmen. Die Erkenntnis über die gegenseitige Abhängigkeit wächst. Man macht und muss – angesichts des sonst drohenden Informationsverlustes – Ernst machen mit der Vernetzung von Kulturgutbewahrern und IT-Spezialisten. Das komplexe Thema der Langzeitarchivierung elektronischer Daten ist aufgrund der gesellschaftsübergreifenden Brisanz längst nicht mehr die Spielwiese einiger weniger Spezialisten.
Dies ist der Ansatz und gleichzeitig das Verdienst des nun schon einige Jahre existierenden nestor-Kompetenznetzwerkes Langzeitarchivierung und der in diesem Rahmen stattfindenden und vom EU-Projekt DPE (DigitalPreservationEurope) unterstützten Schools, die sich in ihrem didaktischen Vorgehen am Vorbild der Delos Summer Schools orientieren [Neuroth, H.; Oßwald, A.: Curriculare Innovation im Spezialbereich: Qualifizierung im Themenbereich der Langzeitarchivierung digitaler Objekte. IN: ZfBB 55 (2008) 3-4 S. 190 – 197].
Abb.: Gemeinsam mit Vertretern verschiedener Hochschulen und dem europäischen Projekt DigitalPreservationEurope (DPE), hat nestor vom 16. – 20. März 2009 die nestor/DPE Spring School "Digitale Langzeitarchivierung: Von der Konzeption zur Umsetzung" in der BDB-Musikakademie Staufen/Breisgau durchgeführt (Foto: nestor).
Hauptschwerpunkt der einmal jährlich stattfindenden einwöchigen Veranstaltungen ist es, Vertreter der verschiedenen Gedächtnisorganisationen und der IT-Branche gemeinsam für die Probleme der digitalen Langzeitarchivierung zu sensibilisieren und existierende Lösungsansätze vorzustellen (gegenwärtig wird schon eine nestor Summer School 2010 für den 14. bis 18. Juni 2010 geplant). Die berufliche Herkunft der Teilnehmer ist entsprechend breit gestreut und reicht von National-, Landes- und Kommunalmuseen- und Bibliotheken über Staats-, Stadt- und Wirtschaftsarchive bis zu Forschungs- und Bildungsinstitutionen. Den Veranstaltern ist es bisher gelungen, führende Vertreter der „digitalen Langzeitarchivierungscommunity“ als Referenten zu gewinnen. Hoch ist damit der Mehrwert für die Teilnehmer. Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass die Vorträge durchweg von einer hohen Praxisorientierung gekennzeichnet sind. Die frühzeitige Ausbuchung und die Anzahl der Teilnehmer sprechen dabei eine deutliche Sprache.
Wer auf einen entspannten Bildungsurlaub gehofft hat, ist schnell eines Besseren belehrt. Die in der Regel täglich 9 Stunden umfassenden Workshops verdienen diese Bezeichnung in jeder Beziehung. Die straff organisierten Tage gliedern sich in ausführliche, ein Thema umfassende Vorträge und sich daran anschließenden Arbeitsgruppensitzungen, in denen das im Vortrag behandelte Problemfeld anhand von Praxisszenarien durchgespielt wird. Die Teilnehmer lernen hierbei, die Theorie verständnisvertiefend mit der eigenen Berufspraxis zu verbinden und auftretende Schwierigkeiten im Team zu diskutieren. Die Besonderheit liegt dabei in der deutlich werdenden unterschiedlichen Herangehensweise der Teilnehmer, die dem Einzelnen den Blick für benachbarte Disziplinen öffnet. Die in den Arbeitsgruppen erreichten Ergebnisse werden dann vor dem gesamten Auditorium vorgestellt und diskutiert, mitunter durchaus offensiv verteidigt. Die gesamte Schulungszeit ist von einer angenehmen, aber auch fordernden Atmosphäre konzentrierter Produktivität gekennzeichnet. Nicht zuletzt die gemeinsame Unterbringung, die auch außerhalb des eigentlichen Arbeitstages Möglichkeiten des weiterführenden Gesprächs und Kennenlernens eröffnet, ist verantwortlich für den Erfolg der Schools.
Die vom 16.-20. März 2009 in Staufen/Breisgau durchgeführte nestor-Spring School stand unter dem Leitthema „Digitale Langzeitarchivierung: Von der Konzeption zur Umsetzung“ [nestor Kompetenzwerk Langzeitarchivierung: Digitale Langzeitarchivierung: Von der Konzeption zur Umsetzung. Nestor/ DPE Spring School 2009]. Ziel dieser Spring School 2009 war es, den Teilnehmern neben den Grundlagen der Langzeitarchivierung die derzeitigen konzeptionellen Überlegungen zur Langzeitarchivierung zu vermitteln. Hier sind insbesondere zwei Schwerpunkte zu nennen: der Aufbau eines digitalen Archivs und die Langzeitarchivierung von Forschungsdaten.
Stefan Strathmann (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen), stellte am Anfang der Spring School Ziele, Aufgaben und Perspektiven des nestorprojektes vor. nestor (www.langzeitarchivierung.de) ist das deutsche Kompetenznetzwerk zur digitalen Langzeitarchivierung. Ziel von nestor ist der nachhaltige Aufbau einer kooperativen Infrastruktur, in der vielfältige Fachkompetenzen bei der Langzeitarchivierung in Deutschland und darüber hinaus zusammenwirken [Dobratz, S., Neuroth, H., Schoger, A.; Strathmann, S.: nestor – Entwicklungsstand des Kompetenzwerkes zur Langzeitarchivierung digitaler Ressourcen in Deutschland. In: ZfBB 52 (2005) 3-4 S.151-162]. nestor befasst sich hauptsächlich mit der dauerhaften Verfügbarkeit von digitalen Informationsobjekten, die in Archiven, Bibliotheken und Museen als Objekte von historischem und kulturellem Wert erhalten werden müssen [Huth, K.: Das Bundesarchiv und das Projekt nestor. Was bisher geschehen ist und was noch kommt. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv H.2/2008].
Professor Regine Scheffel (Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig), gab als Einführungsvortrag einen Überblick über die Begrifflichkeit, die Strategien und die Modelle der Langzeitarchivierung. Wichtige Aspekte der Langzeitarchivierung machte sie anhand von aktuellen Modellen deutlich, insbesondere mithilfe des Modells von Thibodeau, bei dem drei Betrachtungsebenen, das heißt das konzeptionelle, das logische und das physische Objekt unterschieden werden. In ihrem Vortrag legte Frau Scheffel einen Schwerpunkt auf die Behandlung der Metadaten als strukturierte Daten über Objekte. Um die Beschreibung, die Suchbarkeit und das Auffinden der Objekte zu realisieren, müssen Metadaten mit dem jeweiligen digitalen Objekt verbunden werden. Als Ansatzpunkt dafür dient das Dublin Core Modell.
Als Referenzmodell für ein Archivsystem innerhalb des Produzenten-Konsumenten-Verhältnisses stellte sie das OAIS vor. OAIS steht für Open Archival Information System bzw. Offenes Archiv-Informations-System (ISO-Standard 14721:2003). Es beschreibt allgemein die notwendigen Organisationsstrukturen und Prozessabläufe eines Archivsystems, in dem Mensch und Technik zusammenwirken, um digitales Archivgut verfügbar zu halten. Der Teilnehmer erhielt mit diesem Vortrag einen Überblick über Umgang, Formate und Metadaten der digitalen Objekte.
Prof. Dr. Niklaus Stettler (Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur) stellte in seinem Vortrag den Lebenszyklus von Akten in den Fokus seiner Überlegungen. Indem er das bisher gewohnte Modell der Linearität der Datenexistenz, beginnend beim Datenproduzenten, der folgenden semiaktiven Phase in der Registratur bis zur stabilen Phase im Archiv mit den Abläufen der elektronischen Welt verglich, wurde die „Krise des traditionellen Lebenszyklus“ konstatiert. Im klassischen Modell dominiert die Sicht auf das Objekt, die Langzeitarchivierung wird meist ab der Ingest-Phase betrachtet. Das von ihm erläuterte The DCC Curation Lifecycle Model [http://www.dcc.ac.uk/docs/publications/DCCLifecycle.pdf] (Digital Curation Centre, UK) stellt den Wiedergebrauch und die Wiederbelebung der Objekte in den Vordergrund und fokussiert stärker auf die vor dem Ingest liegenden Prozesse der Bildung, Bewertung und Erschliessung von Informationsobjekten durch den Produzenten, der damit Aufgaben des Archivars übernimmt. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärzweck verliert an Bedeutung.
Karsten Huth (Bundesarchiv) beschrieb die praktische Umsetzung des OAIS-Modells beim Aufbau des digitalen Archivs im Bundesarchiv. Er sprach sehr praxisbezogen über die Erfahrungen der Konzeptionierungsphase. In ihr wurde zunächst die Basis für die Architektur des digitalen Archivs und dessen Implementierung in die technische Infrastruktur geschaffen. Neben der angestrebten OAIS-Konformität waren folgende Fragen zu klären: (1) Welche Dokumente sind abzuliefern?, (2) In welcher Form werden diese übermittelt? (Originale oder Exportdaten), (3) Welche Metadaten werden beigefügt?, (4) Wie sind rechtliche Belange geklärt?, (5) Welcher technische Standard ist notwendig?, (6) Wie viel Haushaltsmittel sind vorhanden und (7) welches Personal (mit Hintergrundwissen in Bezug auf archivarisches und technisches Wissen) steht zur Verfügung? – Der Vortrag und die dazugehörige Übung gaben eine Handlungsorientierung für den Aufbau eines digitalen Archivs [Nestor Kompetenzwerk Langzeitarchivierung: Digitale Langzeitarchivierung: Von der Konzeption zur Umsetzung. Nestor/ DPE Spring School 2009. S.50-57].
Prof. Dr. Achim Oßwald (Fachhochschule Köln/Institut für Informationswissenschaft) und Jens Ludwig (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen) zeigten die Vorteile und Nachteile der einzelner Langzeitarchivierungsstrategien (Datensicherung, Computermuseum, Konversion, Emulation, Migration und Persistent Archives) auf. Als wichtigste Strategien der langfristigen Datensicherung sind Migration und Emulation zu nennen. Unter Migration versteht man die Änderung der Daten und ihre Anpassung an ein anderes, neueres Format. Dagegen wird bei der Emulation das digitale Objekt nicht verändert. Dessen Lesbarkeit wird durch Nachahmen der Ursprungsumgebung und Funktionalitäten gewährleistet. Dies erfolgt mittels spezieller Programme (Emulatoren) [Rauch, C.; Rauber, A.: Anwendung der Nutzwertanalyse zur Bewertung von Strategien zur langfristigen Erhaltung digitaler Objekte. In: ZfBB 52 (2005) 3-4, S. 172-180]. Bei der Konversion werden die Daten auf ein anderes Medium gebracht, bspw. auf einen Mikrofilm bzw. Fiche. Als einen kurz- bzw. mittelzeitigen Ansatz einer Speicherstrategie kann das Modell Computermuseum angesehen werden. Jedoch muss beachtet werden, dass trotz des Bereithaltens von Ersatzteilen und softwarespezifischem Knowhow die dauerhafte Funktionalität der verschiedenen Systemkomponenten nur sehr eingeschränkt gewährleistet werden kann.
Dr. Heike Neuroth (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen) verdeutlichte in ihrem Vortrag, dass zukünftig die Frage der Langzeitverfügbarkeit und des Zugangs zu Forschungsdaten innerhalb der Langzeitarchivierung eine wesentliche Rolle spielen wird. Eindrucksvoll stellte sie den nestor-Ansatz dazu vor. Er besteht darin, Projekte der nachnutzbaren und vertrauenswürdigen Archivierung von Forschungsdaten zu entwickeln. Sie behandelte aus technischer Sicht Fragen der Datenmengen, ging aber auch auf die politische Brisanz bzw. die Konsequenzen für Wissenschaft, Wissenschaftsorganisationen, Service-Infrastruktureinrichtungen und auf die Aktivitäten der AG Forschungsdaten in der Allianz der Wissenschaftsorganisationen ein. Der im Herbst 2008 gegründeten Arbeitsgemeinschaft gehören Vertreter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gesellschaft und der Hochschulrektorkonferenz an; die Leitgedanken der AG bestehen in Folgendem: „Qualitätsgesicherte Forschungsdaten bilden einen Grundpfeiler wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie belegen wissenschaftliche Erkenntnisse und sind vielfach auch Grundlage weiterer Forschung. Der nachhaltige Umgang mit Forschungsdaten ist eine strategische Aufgabe, die von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft gemeinsam zu leisten ist. Die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisation ist sich des dringenden Handlungsbedarfs bewusst. Mit dem Ziel, die Qualität, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Wissenschaft zu fördern, verabschiedet sie Grundsätze für ein koordiniertes weiteres Vorgehen“ [Nestor Kompetenzwerk Langzeitarchivierung: Digitale Langzeitarchivierung: Von der Konzeption zur Umsetzung. Nestor/ DPE Spring School 2009. S.113].
Dr. Jens Klump (Deutsches GeoForschungsZentrum Potsdam) präsentierte praktische Beispiele für die Langzeitverfügbarkeit von Forschungsdaten aus Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft (Erdbeobachtungssystem, Endsystemmodellierung, Labordaten). In den Übungen standen bei der digitalen Langzeitarchivierung von Forschungsdaten die Beschreibung des Datensatzes, die Verknüpfung der Metadaten und das Datenformat zur Diskussion.
Jens Ludwig (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen) stellte in seiner Lektion den von der nestor AG Standards entwickelten Leitfaden für die Informationsübernahme vor, der folgendermaßen aufgebaut ist: (1) Objekte, (2) Prozesse und (3) Management. Der Abschnitt „Objekte“ behandelt die Auswahl der zu archivierenden Informationen bzw. der Metadaten, und es werden die wesentlichen Eigenschaften der Objekte wie content, context, appearance, strukture und behaviour erläutert. Im Abschnitt „Prozesse“ werden die Transferpakete, die Validierung und der Transfer von Daten definiert. Im dritten Abschnitt sind Teilbereiche des Datenmanagements beschrieben, auch werden Fragen zum Vertrag, zur Übernahmevereinbarung und zur Dokumentation behandelt [Nestor-Arbeitsgruppe Standards für Metadaten, Transfer von Objekten in digitale Langzeitarchive und Objektzugriff: Wege ins Archiv. Ein Leitfaden für die Informationsübernahme in das digitale Langzeitarchiv. Nestor-Materialien 10].
Bei einer Weinprobe erläuterte Prof. Dr. Andreas Rauber (Technische Universität Wien) in origineller Weise die Strategien und Softwarewerkzeuge zur langfristigen Bewahrung digitaler Informationen. Anhand der Weinprobe stellte er ein auf der Nutzwertanalyse basierendes Vorgehensmodell zur Planung und Evaluierung von Erhaltungsstrategien vor. In dem Vortrag wurde deutlich, dass die Wahl der optimalen Speicherstrategie von den vom Anwender definierten Anforderungen abhängig ist [Rauch, C.; Rauber, A.: Anwendung der Nutzwertanalyse zur Bewertung von Strategien zur langfristigen Erhaltung digitaler Objekte. In: ZfBB 52 (2005) 3-4, S. 172-180]. Ausgehend von der Zieldefinition wurden die Methoden der Langzeitarchivierung, die Formate und die erforderlichen Metadaten dargelegt und anhand des Beispiels konkretisiert. Beim Wein wurde die Preservation Planning Strategie unter den Teilnehmern dann lebhaft weiter diskutiert.
Als Resümee kann gesagt werden: Die nestor- Spring School 2009 sprach als Fortbildungsreihe sowohl Auszubildende und Studenten als auch Praktiker und Forscher an. Sie bildete ein Forum, um Kontakte, Netzwerke auf- bzw. auszubauen und Synergien zu schaffen. Die Teilnehmer erhielten praktische Handlungsanweisungen mit theoretischem Hintergrund, um ein digitales Archiv aufbauen zu können. Dafür ist den Organisatoren, den Veranstaltern und den Referenten zu danken.
Dr. Frank Baumann, Hochschule Merseburg (FH), University of Applied Sciences, Hochschulbibliothek
Dipl.-Archivar (FH) Benny Dressel, Stadtarchiv Zwickau