Während der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich (1938-1945) wurde zahlreiches Schriftgut, zu welchen Zwecken und unter welchen Umständen auch immer, aus dem ehemaligen österreichischen Staatsgebiet auf das Territorium des „Altreiches“ gebracht. Bei der Aussonderung der Bestände ging man keineswegs wahllos vor, sondern
nahm gezielt Unterlagen mit, die etwa das Regime des Ständestaates mit dessen Verwaltung betrafen oder auch Unterlagen, um dem letzten Bundeskanzler in dessen Rolle beim missglückten NS-Putsch des Jahres 1934, in späterer Zeit den Prozess machen zu können. Aber auch zahlreiche aufgelöste Vereinigungen, private Unterlagen von nunmehr
Verfolgten, die sich teils rechtszeitig durch Emigration der Vernichtungsmaschine entziehen konnten, teils dieser anheim fielen. Ein sehr breites Spektrum von Schriftgut, wie das Generalsekretariat der Vaterländischen Front, dem Bund „Blauer Adler“ zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, oder Unterlagen aus dem Besitz von Univ.-Prof. Dr. Ludwig Mises oder dem Dekanat der Medizinischen Fakultät der Wiener Universität befanden sich, um einige Beispiele zu geben, darunter.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist nach der Konsolidierung der Verwaltung Österreich bemüht, zu eruieren, wohin diese und anderes Material gelangt sein könnte. Einerseits wurde lange angenommen, dass es dem Bombenkrieg auf deutschem Territorium zum Opfer gefallen sein könnte, anderseits wurde es in den Archiven der Deutschen Demokratischen Republik vermutet. Erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erhielten österreichische Forscher Zugang zum Moskauer „Sonderarchiv“, einem von Kriegsgefangenen errichteten Gebäude. Dort wurde das aus Berlin auf schlesische Schlösser und auf das Territorium des „Protektorates Böhmen und Mähren“, ausgelagerte österreichische Material verwahrt, nachdem es von der Roten Armee gesammelt und in die sowjetische Hauptstadt verbracht worden war. Diese Kenntnis, dass die Akten erhalten geblieben waren und ein erstes Verzeichnis von Gerhard Jagschitz und Stefan Karner über Beuteakten aus Österreich im Jahr 1996 ermöglichte in den folgenden Jahren durch die Liberalisierung des Archivzuganges in der Russischen Föderation, zahlreichen Historikerinnen und Historikern eine Einsichtnahme zu Forschungszwecken.
Ungefähr gleichzeitig begann das Österreichische Staatsarchiv mit Unterstützung des Bundeskanzleramtes, des österreichischen Außenministeriums und ganz besonders durch zahlreiche Hilfestellungen der österreichischen Botschaft in Moskau in bilateralen Verhandlungen mit der Russischen Föderation eine Rückführung des Aktenbestandes nach Österreich zu erreichen. Es galt die internationale Vorgabe des „Provenienzprinzips“ (Herkunftsprinzip) in die Wirklichkeit umzusetzen. Im Rahmen der ausgesprochen angenehm geführten Verhandlungen, konnte nunmehr ein großer Teil der nicht kleinen Liste, mit Zustimmung der Russischen Föderation am 15. Juni 2009 in das Österreichische Staatsarchiv zurückgebracht werden.
Am 23. Juni 2009 fand die feierliche Übergabe zwischen den Außenministern Michael Spindelegger und Sergej Lawrow statt. Symbolisch für die mehrere Tonnen schwere Ladung, die mit einem Sattelschlepper von Moskau nach Wien transportiert worden war, übergab der russische Außenminister seinem österreichischen Kollegen zwei Akten aus den Jahren 1937 und 1938. Doch die rund 11.000 Archivmappen sind nur ein Teil des nach Rußland verbrachten Aktenmaterials. Weitere Verhandlungen über die seinerzeit wegen Komplexität zurückgestellten noch offenen Materien sind also nötig, um unter anderem Unterlagen über die Israelitische Kultusgemeinde, die Paneuropa-Union sowie Freimaurer-Akten rückzuführen. Stephan Vavrik, zuständiger Abteilungsleiter im Außenministerium, hofft jedoch, dieses bis Ende 2010 über die Bühne gebracht zu haben.
Im Österreichischen Staatsarchiv wird das jetzt gelieferte Aktenmaterial in den nächsten Monaten einer detaillierten Sichtung unterzogen und die weitere Vorgehensweise durch die im Archiv tätigen Fachleute geklärt. Es ist nämlich noch völlig offen, ob die Archivalien wieder dort eingeordnet werden, woraus sie entnommen wurden oder ob sie eigenständig aufgestellt werden. Viele Fragen müssen hier in der nächsten Zeit noch geklärt werden. Für Herbst 2009 ist im Rahmen eines größeren Festaktes daran gedacht, nicht nur eine breite Öffentlichkeit von den Geschehnissen zu informieren, sondern auch den Dank des Staatsarchivs an alle hilfreich Beteiligten auszudrücken.
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Quelle: Lorenz Mikoletzky, Meldungen Österreichisches Staatsarchiv; Kurier.at, 23.6.2009