Die Expertenanhörung am 24. Juni 2009 zum Kölner Archiveinsturz und den Konsequenzen hat innerhalb des deutschen Archivwesens und darüber hinaus große Resonanz gefunden. Mehr als 160 Teilnehmer sind in Köln zusammengekommen, um aus angemessenem zeitlichen Abstand über die Konsequenzen aus dem Unglück zu beraten. Die Ergebnisse, die dabei erzielt wurden, werden in die fachliche Diskussion der Archive Eingang finden. Sie verdienen aber auch jenseits der Fachgemeinschaft Aufmerksamkeit, weil sie Handlungsorientierungen bereitstellen für die Träger der Archive und die Politik.
Drei Themenblöcke standen im Zentrum der Beratungen und wurden in drei unterschiedlichen Arbeitsgruppen beraten. Diskutiert wurden Normen und Standards
1. des Archivbaus
2. der Prävention und Notfallvorsorge in Archiven
3. der Sicherungsverfilmung und Digitalisierung von Archivgut
Die wichtigsten Erkenntnisse werden im Folgenden zunächst in Form von sieben Thesen zusammengefasst und anschließend für jeden Themenkomplex noch einmal ausführlicher erläutert.
I. Die Ergebnisse der Expertenanhörung in sieben Thesen
1. Die Normen zum Bau von Archiven benötigen keine grundsätzliche Änderung oder Ergänzung, sondern eine Konkretisierung im Einzelfall. Dazu zählen insbesondere standort- und gebäudespezifische Risikoanalysen. Die Bewertung von Risiken für Archivbauten und Schäden am Archivgut sind eine Daueraufgabe.
2. Nach dem Vier-Augen-Prinzip muss die Einhaltung baufachlicher Normen bei der Errichtung von Archivgebäuden sowohl durch den Bauherrn (unter Einbeziehung von Bauexperten) als auch durch eine unabhängige Bauaufsicht überwacht werden.
3. Als Konsequenz aus den Kölner Archiveinsturz ergeben sich wichtige Hinweise für die Fortentwicklung der Notfallplanung und -logistik, beispielsweise im Hinblick auf den Ordnungsverlust und die Fragmentierung von Archivgut.
4. Dem Beispiel einzelner Regionen und Städte folgend bedarf es vielerorts noch der Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen in Notfallverbünden. Hierbei müssen die Archive nicht nur konzeptionell, sondern auch in der praktischen Umsetzung (Notfallübungen) weiter voranschreiten.
5. Obwohl Katastrophen wie die von Köln in großem Ausmaß zur Schädigung und teilweise auch zum Totalverlust von Archivgut führen, sind auf die Gesamtheit gesehen die Unterlagen in Archiven durch die „schleichende Katastrophe“ eines Zerfalls aus materialbedingten Gründen stärker betroffen. Zur Vorbeugung und Behebung solcher Schäden sind weiterhin geeignete Maßnahmen erforderlich, wie sie mit der Landesinitiative Substanzerhalt erfolgreich durchgeführt werden.
6. Nach dem gegenwärtigen Stand der Technik müssen Verfahren der Sicherungsreprographie nach wie vor auf dem Medium Mikrofilm basieren. Mit der weiteren technischen Entwicklung kann die Digitalisierung als Medium der Sicherung an Bedeutung gewinnen; bereits digital entstandene (born-digital) Dokumente können überhaupt nur digital gesichert werden.
7. Digitalisierungsmaßnahmen spielen eine große Rolle, um die Benutzbarkeit beschädigter oder zerstörter Bestände rasch wieder herzustellen. Hierzu hat das Land Mittel der Soforthilfe bereitgestellt, um Sicherungsfilme besonders wertvoller Archivbestände des Historischen Archivs zu digitalisieren. Im Falle von Köln wird angeregt, die Bemühungen um eine digitale Rekonstruktion des Stadtarchivs unter Beteiligung eines fachlichen Beirats aus Vertretern der Forschung zu unterstützen.
II. Archivbau (Arbeitsgruppe 1)
Mit der DIN ISO 11799 „Anforderungen an die Aufbewahrung von Archiv- und Bibliotheksgut“ existiert eine Norm, die wesentliche Rahmenbedingungen für die Errichtung von Archivbauten absteckt. An dieser Norm besteht auch nach den Erfahrungen aus Köln kein grundsätzlicher Änderungsbedarf. Da aber die Norm nicht alles im Detail regelt und regeln kann, bedarf es im Einzelfall stets einer Konkretisierung der Norm. Für jeden Archivbau muss eine standort- und gebäudebezogene Risikoanalyse erstellt werden, deren Erkenntnisse den Bauprozess steuern und über die Fertigstellung hinaus fortgeschrieben werden müssen. Den Einheits-Archivbau nach dem Muster von Bahnhofsbauten im 19. Jahrhundert kann es deshalb, wie der Präsident des Bundesarchivs, Hartmut Weber, betonte, nicht geben. Vor allem bei Zielkonflikten, die z. B. zwischen den normativen Forderungen der DIN ISO 11799 und dem berechtigten Wunsch der Archive nach guter Erreichbarkeit bestehen, gilt es zu prüfen, welche Sicherheitsmaßnahmen im konkreten Fall zu ergreifen sind. Bei jedem Gebäude ist darüber hinaus im Sinne einer nachhaltigen Kontrolle durch regelmäßige Inspektionen der Zustand zu überprüfen und die Bausicherheit auf diese Weise dauerhaft zu garantieren. Dabei gibt die DIN-ISO-Norm sowohl für die Bauplanung als auch für das fortlaufende Monitoring nicht den einzigen Maßstab ab. Christian Schramm, Präsident der Architektenkammer NRW, hat darauf hingewiesen, dass erst in der Zusammenschau der DIN-ISO-Norm mit den Landesbauordnungen und weiteren Sonderbestimmungen ein „enges Regelgeflecht für die Sicherheit von Gebäuden“ vorliegt. Verantwortlich dafür, dass dieses Regelwerk eingehalten wird, ist zunächst der Bauherr. Er muss sich, um seine Aufgabe verantwortungsvoll wahrnehmen zu können, der Hilfe „qualifizierter Planer" bedienen. Dies sind Architekten, Fachingenieure und nicht zuletzt die Bauleiter, denen nach den Worten von Schramm besondere Bedeutung zukommt. Heinrich Bökamp, Leiter der Ingenieurkammer NRW, hat gefordert, dass bei der Sicherheitsprüfung von Archivbauten der Gesichtspunkt fachlicher Qualität die höchste Priorität haben muss. Leistung müsse vor Preis gehe. Unabdingbar ist nach Aussagen Bökamps zudem, dass die Einhaltung der baufachlichen Standards nicht nur von Seiten des Bauherrn, sondern nach dem Vier-Augen-Prinzip zusätzlich auch durch eine unabhängige Bauaufsicht überprüft wird. Wer sich anmaßt, sich selbst überwachen zu können, sei, so Bökamp, auf einem verhängnisvollen Irrweg.
III. Prävention und Notfallvorsorge in Archiven (Arbeitsgruppe 2)
Für Archive, Bibliotheken, Museen und andere Kultureinrichtungen gibt es zahlreiche Handreichungen, Praxisberichte und Empfehlungen zur Notfallprävention. Der Bestandserhaltungsausschuss der Archivreferentenkonferenz des Bundes und der Länder hat seine umfassenden Empfehlungen zur „Notfallvorsorge in Archiven“ zuletzt im August 2007 aktualisiert. Ein Unglück wie das von Köln ist in diesen Empfehlungen bislang allenfalls am Rande berücksichtigt, weil Kriege, Terroranschläge oder Erdbeben, die bislang als auslösende Faktoren für ein Unglück dieses Ausmaßes in Betracht gezogen wurden, im Vergleich zu Havarien, Hochwasser oder Bränden nur eine sehr geringe Eintrittswahrscheinlichkeit haben. In diesem Punkt besteht nach den Erfahrungen aus Köln Fortschreibungsbedarf für die Empfehlungen, vor allem bei den Fragen der Verpackung und Ordnung von Archivgut sowie bei der Planung von Handlungsabläufen im Notfall. Archivgut muss möglichst robust verpackt und fest formiert gelagert werden; das Verpackungsmaterial sollte säurefrei, alterungsbeständig und in Form und Farbe wasserstabil sein. Wegen des Ordnungsverlustes und der Fragmentierung von Archivgut ist nach den Erfahrungen von Köln besonderer Wert darauf zu legen, die Ordnung des Archivguts auch nach einem Katastrophenfall transparent und rekonstruierbar zu halten. Findhilfsmittel und Lagerungsübersichten müssen zu diesem Zweck besonders gesichert werden (durch Einbeziehung in die Sicherungsverfilmung und Retrokonversion); die innere Ordnung von Beständen muss nachvollziehbar sein, ggf. durch Einführung von Mehrfach-Identifikatoren, die über eine Signatur auf dem Aktendeckel hinausgehen. Für den betrieblichen Ablauf der Notfallvorsorge ist der weitere Aufbau von Notfallverbünden mit fest abgestimmten Kommunikations- und Kompetenzstrukturen unerlässlich. Diese Aufgabe müssen die Archive nicht nur konzeptionell, sondern verstärkt auch in der praktischen Umsetzung angehen. Um die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen zu erhöhen, ist zudem die regelmäßige Übung wichtig. Dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Benutzer das Kölner Stadtarchiv rechtzeitig verlassen konnten, ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass eine Evakuierung des Gebäudes kurz vor dem Einsturz geprobt worden war.
Trotz vieler wichtiger Erfahrungen aus der Kölner Katastrophe kann es keine Patentlösung zur Notfallvorsorge geben. Die jeweils besondere Situation der einzelnen Archive erfordert nicht nur beim Bau, sondern auch in der Notfallvorsorge individuelle Risikoprofile, an denen sich das Risikomanagement als laufende Aufgabe orientieren kann.
Festgehalten werden muss schließlich noch: Alle Maßnahmen der Notfallvorsorge sind für den Fall plötzlich eintretender Katastrophen ausgelegt. Diese stehen auch im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Dass es daneben auch „schleichende Katastrophen“ wie den Zerfall und die Zersetzung durch schlechte Inhaltsstoffe in Papier gibt, darauf haben sowohl Frau Haberditzl vom Landesarchiv Baden-Württemberg als auch Frau Bülow, Leiterin der Abteilung Bestandserhaltung im Londoner National Archives, und der Präsident des Bundesarchivs Hartmut Weber hingewiesen. Als präventive Maßnahme ist deshalb die Einhaltung eines geeigneten Klimas und Sauberkeit in den Magazinen der Archive besonders wichtig. Dort, wo bereits Schädigungen eingetreten sind, müssen Konservierungsmaßnahmen ergriffen werden. Die Landesinitiative Substanzerhalt in Nordrhein-Westfalen wurde in diesem Zusammenhang vom Präsidenten des Bundesarchivs ausdrücklich hervorgehoben.
IV. Sicherungsverfilmung und Digitalisierung (Arbeitsgruppe 3)
Eine Sicherung von Archivgut durch Reprographie bietet die Gewähr dafür, dass im Falle einer Beschädigung oder gar eines Verlusts der Originale zumindest der Informationsgehalt der Unterlagen relativ rasch wieder verfügbar und zugänglich gemacht werden kann. Nach heutigem Stand der Technik müssen Verfahren der Sicherungsreprographie auf dem Medium des Films basieren. Digitalisierungsmaßnahmen für Zwecke der Benutzung können von diesen Filmen ihren Ausgang nehmen. Insofern bilden Sicherungsverfilmung und Digitalisierung keine Gegensätze, sondern ergänzen einander. Strategische Überlegungen zur Planung von Digitalisierungsprojekten müssen entlang einer Priorisierung erfolgen. Das Interesse der Forschung, die Nutzungsfrequenz und die Gefährdung des Bestandes durch endogenen Zerfall können Kriterien für eine solche Priorisierung sein. Die Sondersituation in Köln, wo fast alle Originale über längere Zeit nicht benutzbar sein werden, macht zwangsläufig besondere und spezifische Ansätze der Digitalisierung notwendig. Diese Situation bietet auch eine Chance, neue Wege auf diesem Feld zu erproben. Das von Andreas Rutz (Universität Bonn) und anderen initiierte "Digitale Historische Archiv Köln", in das Benutzer selbst Reproduktionen von Kölner Archivgut online einstellen können, ist ein Beispiel, wie schon innerhalb weniger Tage nach dem Unglück von Köln, digitalisierte Archivalien und digitalisierte Sekundärüberlieferung im Internet zugänglich gemacht wurden. Durch die Einbeziehungen von Web 2.0-Funktionalitäten bietet dieses "Digitale Archiv", das mit dem Kölner Stadtarchiv inzwischen einen Kooperationsvertrag abgeschlossen hat, die Möglichkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen Archiven und der nutzenden Forschung. Dieser kooperative Ansatz könnte weiter ausgebaut werden zu einem fachlichen Beirat, der den Wiederaufbau und die digitale Rekonstruktion des Historischen Archivs der Stadt Köln langfristig begleitet. Auf diese Weise böte sich eine Chance, die zuletzt gelockerte Verbindung von Archiven und Geschichtswissenschaft wieder zu festigen und auch Mittel aus der Forschungsförderung, z. B. der Deutschen Forschungsgemeinschaft, für die Archive nutzbar zu machen.
Die gesammelten Ergebnisse der Expertenanhörung zum Kölner Archiveinsturz werden in ausführlicher Form in einer Publikation des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen veröffentlicht werden. Diese Publikation, die zum Deutschen Archivtag im September vorliegen soll, wird wichtige Hauptbeiträge der Veranstaltung im Volltext, andere Beiträge sowie die Diskussion in zusammengefasster Form enthalten.
Kontakt:
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Fachbereich Grundsätze
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Quelle: LAV NRW, Pressemitteilung, 25.6.2009