„Kleinstadtzauber – Waldesruh. Zur Geschichte des Fremdenverkehrs im Gießener Land“ lautet der Titel der aktuellen Ausstellung, die Landrat Willi Marx am 20. April 2009 in den Räumen der Kreis-Volkshochschule im Licher Kreuzweg eröffnete. Während Landrat Marx vor den zahlreich erschienenen Gäste einen Abriss über die bisherigen Erfolge der kreiseigenen Stabsstelle „Wirtschaftsförderung und Tourismus“ lieferte, referierte Kreis-Archivarin Sabine Raßner während der Eröffnung über einige inhaltliche Schwerpunkte der Ausstellung. Das historische Kaleidoskop wird auf 23 Ausstellungstafeln präsentiert.
„Oberhessen hat sich fremdenverkehrsmäßig mehr und mehr entwickelt, und viele Orte werden als Erholungsgebiet oder anerkannte Luftkurorte empfohlen. Der Jugend wird zum Wandern ein neuer Antrieb gegeben, in allen Städten gibt es neue Herbergen; auch die Gastronomie hat sich darauf eingerichtet, dass Oberhessen eine Wanderung wert ist.“ Dieser Auszug aus einem Reiseführer spiegelt das Ergebnis einer Entwicklung wider, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Aktuell stellte Landrat Marx heraus, dass der Bereich Tourismusförderung bereits seit Juni 2000 fester Bestandteil der Wirtschaftsförderung und Strukturentwicklung im Landkreis Gießen geworden sei. Damals wurde die inter-kommunale Arbeitsgemeinschaft „Tourismusförderung“ ins Leben gerufen. Die heimischen Hotel- und Gaststättenbetriebe nähmen Qualifizierungs- und Fortbildungsangebote der Stabsstelle Wirtschaftsförderung gut an, die Zahl der Gäste und Übernachtungen seien in den letzten Jahren merklich angestiegen. Diese Entwicklung müsse auch, so Marx, weiterhin gefördert werden, da hierin eine direkte Wertschöpfung für die Menschen in der Region gegeben sei.
Als die wirtschaftliche Seite des Fremdenverkehrs erkannt worden war, bemühte man sich auch im Gießener Raum um die Hebung des Fremdenverkehrs. Städte und Gemeinden warben fürs eigene Areal als Reiseziel. So fand man in Freienseen, einem kleinen Dorf und heutigem Stadtteil von Laubach, um 1900 das Kaufhaus von Frau Duft, die Metzgerei von Heinrich Schmidt und die Kirche für sehenswert und bildete sie auf einer Grußpostkarte ab. In Treis an der Lumda, heute ein Stadtteil von Staufenberg, vermutete man dagegen eine Attraktion ganz anderer Qualität. Der Überlieferung nach suchten Kranke Heilung in einer dort sprudelnden Quelle, ein gelähmter Mann soll ihr nach einem Bad geheilt entstiegen sein und seine Krücken in eine danebenstehenden Baum gehängt haben. Die Hoffnung darauf, ein zweites Lourdes werden zu können, währte aber nur kurz. Die chemische Untersuchung des Wassers in den 1950-er Jahren war ernüchternd, und das negative Ergebnis ließ die Bereitschaft des Bürgermeisters von Treis, 150 Mark für die Wasseruntersuchung zu zahlen, erheblich schwinden, sodass man sich schließlich auf einen reduzierten Betrag von 90 Mark einigte.
Um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert entstanden verschiedene Verkehrs- und Verschönerungsvereine, die sich jeweils auf lokaler Ebene um die Hebung und Förderung des Fremdenverkehrs bemühten. Zu ihren Hauptaufgaben gehörte neben der Tourismusreklame auch ein direktes Wirken nach innen. Zusammen mit den Gemeindevorständen setzte man sich für die Verbesserung der touristischen Infrastruktur und ein ansprechendes Erscheinungsbild der Kommune ein. Ebenfalls zu dieser Zeit gründeten sich auch überregional tätige Vereine, wie zum Beispiel der Vogelsberger Höhen-Club, der Westerwald-Verein, der Oberhessische Gebirgsverein und sogar ein Alpenverein. Letzterer entwickelte sich aus einer „Tafelrunde der Alpenfreunde“ beziehungsweise dem „Bergsteiger-Stammtisch“. Die Gründungsmitglieder dieser Vereine waren in der Regel Honoratioren oder kamen aus Beamtenkreisen. So sah sich auch die Gießener Sektion des Alpenvereins zeitweise dem Vorwurf ausgesetzt, sich als elitäre Gruppe zu verstehen. Basis dieser Auffassung war beispielsweise die Mitgliedschaft zahlreicher Professoren in den genannten Vereinen und die Tatsache, dass man ganz bewusst versuchte, die Mitgliedschaft auf Angehörige der gehobenen Mittelschicht und des Bildungsbürgertums zu begrenzen.
Auf vielfältige Art und Weise warben die Vereine für den Tourismus in der Region. Wanderwege wurden markiert, Schutzhäuschen, Aussichtstürme, Ruhebänke und Unterkunftshütten errichtet. Sie schufen eine Infrastruktur, die von Reisenden und Touristen genutzt werden konnte, gaben eigene Reiseführer heraus oder wirkten an solchen mit, gestalteten Reklame und sprachen unterschiedliche Zielgruppen an. Sie informierten die einheimische Bevölkerung über die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus und setzten sich nicht zuletzt für die Belange des Naturschutzes und des Umweltschutzes ein. Bahnverbindungen wurden schon früh für den Fremdenverkehr entdeckt und genutzt. Die Biebertal-Bahn, eigentlich für den Transport von Material und Produkten der Montan-Industrie sowie für die Beförderung der Arbeiter zum Arbeitsplatz gedacht, belebte alsbald den Wander- und Fremdenverkehr. Wanderer und Erholungssuchende schätzten es, dass sie das Biebertal und den Dünsberg mit der Bahn leicht erreichen konnten und so manches Ausflugslokal entstand entlang der Strecke. Die von den Einheimischen liebevoll „Bieberlieschen“ genannte Kleinbahn stellte erst in den Fünfziger Jahren ihre Fahrten ein.
Auch in zahlreichen Reiseberichten kann man etwas über Gießen und seine Umgebung lesen. 1902 verbrachte der Amerikaner James T. Hatfield den Sommer auf der Burg Staufenberg, genoss die Erholungstage mit Spaziergängen und beschrieb danach Landschaft und Leute. Auch der Lyriker Rainer Maria Rilke weilte gelegentlich in der Region. Der berühmteste Gast war jedoch Johann Wolfgang Goethe, der sich während einer Ballnacht in Volpertshausen in Charlotte Buff verliebte. Auf insgesamt 23 Ausstellungstafeln können sich die Besucher über die Geschichte des Fremdenverkehrs im Gießener Raum informieren und Interessantes entdecken. Die Ausstellung wirft abschließend einen Blick auf die Gegenwart. Der von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannte Obergermanisch-Raetische Limes, der auf einer Streckenlänge von über 23 Kilometer durch das Gießener Land führt, ist eine kulturhistorische Sehenswürdigkeit. Und der Inheiden-Trais-Horloffer-See ist eines der wichtigsten Naherholungs- und Freizeitgebiete der Region. Konzipiert und erarbeitet wurde die Ausstellung, die noch bis zum 29. Mai 2009 während der Öffnungszeiten der Kreisvolkshochschule Gießen besichtigt werden kann, vom Kreisarchiv Gießen und von den Archiven der Städte und Gemeinden Buseck, Fernwald, Freienseen, Gießen, Grünberg, Heuchelheim, Hüttenberg, Hungen, Langgöns, Laubach, Lich, Pohlheim und Staufenberg.
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Quelle: Aktuelles Landkreis Gießen, 20.4.2009; Gießener Anzeiger, 22.4.2009