Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat eine außergewöhnlich umfangreiche, schöne und kostbare Handschrift eines der bedeutendsten Kulturtheoretiker und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erhalten: Walter Benjamins autobiografische Schrift "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" (1936). Das wertvolle Autograf wurde dem Archiv jetzt von einem großzügigen Mitglied seines Freundeskreises, der Firma Porsche, Stuttgart, geschenkt. Erstmals ist dieses Manuskript nun seit dem 8. Mai bis einschließlich 31. August 2008 im Literaturmuseum der Moderne zu sehen. Die Handschrift, das so genannte »Stefan«-Manuskript, ist vermutlich die noch unveröffentlichte Urfassung, die Ende 1932 entstand. Auf dem Titelblatt ist sie Benjamins Sohn Stefan gewidmet. Sie umfasst 28, meist einseitig mit Tinte beschriebene Blätter und enthält 24 Stücke, manche in mehreren Fassungen. Benjamin verwendete hochwertige, mit Wasserzeichen versehene Papiere.
Im Sommer 1932 begann Walter Benjamin mit der Arbeit an einem Buch, das später sein bekanntestes werden sollte: "Berliner Kindheit um neunzehnhundert". Es ist charakteristisch für die kurzen Prosa-Stücke, dass sie aus den Idyllen der Kindheit – dem Glück der seligen Vorfreuden, wohligen Gruseln und gut behüteten Träumereien – am Ende abgründige, wenigstens gebrochene Bilder schürfen. "Einzelne Expeditionen in die Tiefe der Erinnerung", von denen Benjamin hoffte, dass in ihnen zu merken sei, "wie sehr der, von dem hier die Rede ist, später der Geborgenheit entriet, die seiner Kindheit beschieden war." Die Geschichte des Texts, seine verschiedenen Gestalten wie sein wechselvolles Schicksal, passt gut dazu. Benjamin selbst hat die "Berliner Kindheit" zu seinen "zerschlagenen Büchern" und "unendlich verzettelten Produktionen" gerechnet – nie zu Stande gekommen, aber auch in alle Winde zerstreut. Immer wieder hat er sie überarbeitet, Texte ergänzt und ausgeschieden und in verschiedenen Reihenfolgen für mögliche Veröffentlichungen zusammengestellt. Erschienen sind sie zu seinen Lebzeiten nur einzeln in Zeitungen. Erst 1950, zehn Jahre nach seinem Freitod im spanisch-französischen Grenzort Portbou, gab der Freund Theodor W. Adorno das Projekt erstmals als Buch heraus.
Neben kleineren Vorarbeiten sind heute vier umfangreichere Fassungen bekannt, keine davon mit der von Adorno identisch: zwei maschinenschriftliche Konvolute, das »Gießener« und das als Fassung letzter Hand geltende, erst 1981 wiederentdeckte »Pariser Typoskript«, und zwei handgeschriebene Sammlungen, die nach den Widmungsträgern benannt wurden: Adornos Ehefrau Gretel, von Benjamin Felizitas genannt, und Benjamins Sohn Stefan. Benjamins Schwester Dora ließ den Hauptteil der Handschriften nach dem Tod ihres Bruders zu Adorno nach Amerika bringen, der das Stefan gewidmete Exemplar nach Abschluss der Edition im November 1950 an diesen zurückschickte. Die Witwe Stefan Benjamins gab die Handschrift dem Literaturwissenschaftler Klaus Doderer. 2002 wurde das Manuskript im Hamburger Auktionshaus Hauswedell & Nolte von dem Stuttgarter Antiquar Herbert Blank erworben, der es dem Sportwagenhersteller verkaufte. Im Deutschen Literaturarchiv Marbach fügt es sich nun hervorragend in die vorhandenen Sammlungen zum 20. Jahrhundert ein, in denen sich unter anderem die Nachlässe oder Teilnachlässe von Martin Heidegger, Max Kommerell, Siegfried Kracauer, Hannah Arendt und zahlreicher jüdischer Exilschriftsteller der literarischen Moderne befinden.
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Quelle: Pressemitteilung DLA Marbach, 2.5.2008; Aktuelle Ausstellungen, DLA Marbach