Der Archivar als Allrounder

Rund sechzig Archivexperten aus ganz Deutschland diskutierten auf Einladung des LWL-Archivamtes für Westfalen und der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive auf einem Kolloquium am 8. und 9. Mai 2008 in Münster Fragen zum Wandel des Berufsbildes. In der Öffentlichkeit sei das Berufsbild der Archivare noch stark von Folklore geprägt: "Archivare tragen alle eine Brille mit Gläsern, dick wie Flaschenböden, haben eine blasse Hautfarbe, weil sie den ganzen Tag in fensterlosen Kellern arbeiten\“, so Gastgeber Dr. Marcus Stumpf, Leiter des LWL-Archivamtes für Westfalen, der die Tagung "Das Berufsbild des Archivars im Wandel" eröffnete.

Der Arbeitsalltag in einem Archiv sehe dagegen heute ganz anders aus. Vor allem die rasante Entwicklung elektronischer Medien habe das Berufsbild der Archivare aus früheren Jahrhunderten erheblich erweitert. Stumpf: \“Nicht nur mittelalterliche Urkunden und Akten aus dem 19. Jahrhundert muss der Archivar als Allrounder lesen können, sondern er muss heute elektronische Daten dauerhaft sichern – die wohl bislang größte Herausforderung für den Berufsstand. Moderne Speichermedien wie etwa die CD oder die DVD sind dabei völlig untauglich, da sie nur wenige Jahrzehnte halten.\“ Daher müssten Daten softwareunabhängig in bestimmten Formaten (Fotos z.B. im JPEG 2000-Format) gespeichert und regelmäßig in die jeweils neuen Systemumgebungen überführt werden.

\“Der Kommunalarchivar vereinigt viele Funktionen in einer Person\“, so LWL-Kulturdezernentin Dr. Barbara Rüschoff-Thale in ihrem Grußwort zur Tagung. \“Er ist Dienstleister für die Verwalter, wenn es um die Sicherung elektronischer Daten in der Verwaltung geht. Er ist zugleich Dienstleister für die interessierte Öffentlichkeit, indem das Archiv seine Quellenschätze zur Verfügung stellt. Zudem trägt ein gutes Archiv mit einer breitgefächerten Öffentlichkeitsarbeit dazu bei, dass das Archiv aus der Kulturlandschaft einer Stadt nicht mehr wegzudenken ist.\“

Weitere Grußworte steuerten Rudolph Erbprinz von Croy als Vorsitzender der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive, der Präsident des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen Prof. Dr. Wilfried Reininghaus, der VdA-Vorsitzende Prof. Dr. Robert Kretzschmar und der Vorsitzende der Koninklijke Vereniging van Archivarissen in Nederland Dr. Fred van Kan bei, die neben fachlichen Aspekten auch das Wirken des kürzlich in den Ruhestand getretenen Leiters des Westfälischen Archivamtes Prof. Dr. Norbert Reimann würdigten. \“Mit der Tagung\“, betonte Stumpf, der seit März das LWL-Archivamt leitet, \“werden auch die Leistungen meines Amtsvorgängers Prof. Dr. Norbert Reimann gewürdigt, der sich in seiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit besonders der Professionalisierung der Kommunalarchive gewidmet hat.\“ 

In der von ihm moderierten 1. Arbeitssitzung zum Thema "Profile archivischer Arbeitsfelder" stellte Prof. Dr. Uwe Schaper (Landesarchiv Berlin) die Frage nach einem einheitlichen, spartenübergreifenden Berufsbild angesichts der Vielfalt der archivischen Landschaft. Der BKK-Vorsitzende Dr. Ernst-Otto Bräunche (Institut für Stadtgeschichte – Stadtarchiv Karlsruhe) bezog sich in seinem Vortrag "Kommunalarchivar – ein neues Berufsbild?" auf das Positionspapier "Das Kommunalarchiv" der Bundeskonferenz Kommunalarchive und leitete daraus verschiedene kommunalarchivische "Produkte" ab. Zu den Kernaufgaben für Kommunalarchive müsse mittlerweile auch die Historische Bildungsarbeit gerechnet werde, betonte Bräunche. Im heutigen Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation sei es für Archivarinnen und Archivare dabei notwendig, nach Kooperationspartnern zu suchen. Diese könnten institutionenübergreifend gefunden werden, aber durchaus auf Seiten der archivischen Dienstleister, wenn es zum Beispiel um die Einführung von Dokumentenmanagementsystemen gehe. Das Instrumentarium der Neuen Medien sei auf allen archivischen Aufgabenfeldern zu finden. Nicht nur dies bedinge qualifiziertes Personal für die Archive. Zugleich sei es aber nicht notwendig, es spezielles Berufsbild "Kommunalarchivar" zu entwickeln.

Die beiden weiteren Referate der ersten Arbeitssitzung hatten mit Unternehmens- und Privatarchiven nicht die öffentlichen Archive im Blick und stellten aufgrunddessen auch andere Berufsprofile vor. Prof. Dr. Manfred Rasch (ThyssenKrupp Konzernarchiv) fragte in seinem Vortrag "Was soll bzw. muss ein Wirtschaftsarchivar können?" und gab zugleich einen Einblick in das Rollenverständnis von Archiven in Unternehmen. Die Unternehmen hätten heutzutage nur ein geringes Interesse an Geschichte. Gewisse Impulse gingen lediglich von Unternehmensjubiläen aus, wobei Festschriften, die vom Unternehmensarchivar selbst erarbeitet worden seien, leicht in den Geruch von Auftragsarbeiten kämen. Der Unternehmensarchivar stehe vor der ständigen Herausforderung, die Notwendigkeit, überhaupt ein Archiv zu unterhalten, nachweisen zu müssen. Dabei erweise es sich als besondere Schwierigkeit, dass es für Unternehmen keine Aktenabgabepflicht gebe. Zudem verlangten die Unternehmen von ihren Archivaren in der Regel auch keine Öffentlichkeitsarbeit, so dass es aus zweierlei Gründen wenig Nutzerdruck von außen gebe. Ein Wirtschaftsarchivar müsse daher mit anderen Mitteln seinen betriebswirtschaftlichen Nutzen für das Unternehmen deutlich machen, was in erster Linie über seine Aufgabe als interner Dienstleister geschehe. Archivarische Kenntnisse seien für den Wirtschaftsarchivar von Vorteil, eine Fachausbildung allerdings nicht erforderlich, so Rasch. Der Unternehmensarchivar müsse hingegen ein Allrounder sein, der über eine gute Allgemeinbildung verfüge. Es müsse innerhalb seines Unternehmens ein Netzwerk mit fachnahen Abteilungen bilden und ebenso nach außen hin Kooperationen, insbesondere zum jeweiligen Stadtarchiv, eingehen.

Auch Dr. Martin Dallmeier (Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv, Regensburg) präsentierte in seinem Vortrag "Privatarchive in der deutschen Archivlandschaft" den Allrounder als Realtypus in der Szene der Privat- und Adelsarchive. In dieser Archivsparte führten – wie bei den Unternehmensarchiven – teilweise ebenfalls strategische Überlegungen des privaten Archivträgers im Blick auf Fragen der Geheimhaltung und der Nutzung dazu, dass es einen Rückgang hauptamtlicher Archivare gebe. Im Vergleich zum organisatorisch und fachlich sehr gut aufgestellten Privat- und Adelsarchivwesen in Nordrhein-Westfalen würde dieser Bereich in anderen Bundesländern nicht über ein notwendiges fachliches Rückgrat und Beratungssystem verfügen. Vielfach seien in Privatarchiven keine Facharchivare tätig, obwohl es sich bei diesen Archiven, insbesondere bei den alten Adelsarchiven, nicht um "Exoten", sondern um Archive mit breiter historischer Überlieferung und entsprechend breiter fachlicher Aufgabenstellung handele. 

Die angeregte Diskussion zum Abschluss der Arbeitssitzung formulierte die Anforderung eines "Archivmanagements" als notwendige Erweiterung der fachlichen Qualifikation heutiger Archivarinnen und Archivare. Die Ausbildung müsse ebenso auf Leitungsaufgaben vorbereiten wie auf die Herausforderungen der Verwaltungsreform. Die Diskutanten wiesen unisono darauf hin, dass es insbesondere angesichts der heutigen IT-Herausforderungen verschüttete, fehlende bzw. noch nicht vorhandene Fachkompetenzen bei jedem einzelnen gebe, die man durch lebenslangen Lernen und Weiterbildungen während des Berufslebens auffrischen und neu erwerben müsse. – Im Rahmen seines öffentlichen Abendvortrages "Die Rolle der Archive in der Gesellschaft" zum Abschluss des ersten Kolloquiumstages wies auch Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) auf die Folgen der Wissensrationalisierung im Zeitalter der Neuen Medien hin. Er konstatierte dabei mit dem Philosophen Hermann Lübbe allerdings eine Konjunktur des Archivwesens als Folge der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse: "Gegenwartsschrumpfung", "Vertrautheitsschwund" und der rasche "Veralterungsprozess" der Gegenwart führten zu einem wachsenden Bedürfnis nach "Speicher" sowie zu einer vermehrten Selbsthistorisierung der Gesellschaft. Hiervon könnten auch die Archive und Archivare profitieren, insbesondere wenn sie den Blick auf die Sammlung, Erschließung und Bewahrung nichtamtlichen Archivgutes verstärken würden, um den Makrokosmos im Mikrokosmos zu identifizieren.

Die 2. Arbeitssitzung "Professionalisierung und Qualifizierung im Archivwesen" richtete den Blick auf die Reaktionen der Ausbildungseinrichtungen auf die veränderten Anforderungen an Archivarinnen und Archivare. Das Programm sah zunächst eine von Marcus Stumpf moderierte Runde mit Beiträgen von Dr. Frank M. Bischoff (Archivschule Marburg), Prof. Dr. Hartwig Walberg (Fachhochschule Potsdam) und Fred van Kan vor, die ihre jeweiligen Ausbildungskonzepte vorstellen sollten. Des Weiteren standen Vorträge von Dr. Arie Nabrings (Rheinisches Archiv- und Museumsamt, Pulheim) zum Thema "Fort- und Weiterbildung im Dienst der Archivberatung" sowie von Robert Kretzschmar zum Thema "Profil und Professionalisierung eines archivarischen Berufs- und Fachverbands. Der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare" auf dem Programm. Als größtem Berufs- und Fachverband in Europa komme dem VdA bei Fragen der Professionalisierung des Berufsstandes eine besondere Bedeutung zu.

Kontakt:
LWL-Archivamt für Westfalen
Jahnstraße 26
48147 Münster
Tel.: 0251/591-3887
Fax : 0251/591-269
LWL-Archivamt@lwl.org
www.lwl.org/LWL/Kultur/Archivamt/

Quelle: LWL-Pressestelle, 8.5.2008

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