Jüdisches Archivwesen

Der 2007 von der Archivschule Marburg publizierte Sammelband "Jüdisches Archivwesen" umfasst neben einer Einleitung des Leiters des Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden (Heidelberg), Peter Honigmann, und dem Leiter der Archivschule Marburg, Frank M. Bischoff, ein Grußwort des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, drei Beiträge zum Thema „Formen jüdischer Archivorganisation“, vier Beiträge zum Thema „Displaced Archives – Entstehung einer archivischen Nachkriegsordnung“, drei Beiträge zum Thema „Spezielle Quellengruppen“, drei Beiträge zum Thema „Nationale Modelle und Erfahrungen“, drei Beiträge zum Thema „Bedingungen der Kommunikation“ und drei Beiträge zum Thema „Spezialinventare“ sowie Kurzbiografien der beteiligten Kolloquiumsteilnehmer.

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Aus internationaler Perspektive bieten die fundierten Beiträge einen guten Einblick in die Entwicklung jüdischer Archive in den USA, Deutschland, Israel, Großbritannien, Frankreich, Polen, Russland vor, während und nach der Katastrophe des Holocaust. Die ersten Beiträge verdeutlichen die diversen Methoden der Akquisitionspolitik während und nach dem Zweiten Weltkrieg, als hunderte von jüdischen Gemeinden nicht mehr existierten.

Inka Arroyo berichtet, dass zum Zwecke der Bereitstellung von Beweismaterial für die geplanten Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher sowie für wissenschaftliche Zwecke seit April 1944 das JGHA in Jerusalem, die Wiener Library in London, der Jewish World Congress und das YIVO in New York, das Centre de Documentation Juive Contemporaine in Paris, das Hilfskomitee der Jewish Agency, der zionistische Gewerkschaftsbund und die Central Zionist Archives in Israel einem Aufruf nachkamen, um Material über die NS-Verfolgung der jüdischen Jugend (S. 80) zu sammeln. Hier muss es sich um einen Schreib- bzw. Übersetzungsfehler handeln. Warum sollte die Dokumentation der Verfolgung von Juden und sog. Mischlingen jeglichen Alters nicht genauso wichtig sein? 
Insbesondere aufgrund der Verhandlungen des Direktors der Central Zionist Archives, Alexander Bein, mit den jüdischen Gemeinden Berlin West/Ost konnten 1951 53 Kisten und 1958 95 Kisten mit Akten aus den Beständen des ehemaligen Gesamtarchivs nach Israel ins JHGA, dem heutigen CAfHJP, transloziert werden. Ein kleiner Teil gelangte 1972 mit dem Nachlass Jacob Jacobsons in das Archiv des Leo Baeck Institut in New York. Weitere Teilbestände gelangten ins Moskauer Sonderarchiv und in das Archiv des Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Ein weiterer Teil des ehemaligen Gesamtarchivs überlebte auch die DDR und wird heute im CJA 1 von der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum verwahrt.

Die ersten Beiträge berichten über die Gründungsanlässe und die Archivpolitik des Philadelphia Jewish Archives Center (1975-2005), des Gesamtarchiv der deutschen Juden in Berlin (1905-1938) und des Central Archives for the History of the Jewish People (gegr. 1969) in Jerusalem. Die nächsten Beiträge explizieren das Schicksal jüdischen Archivgutes der Jüdischen Gemeinde Hamburg, der ins Moskauer Sonderarchiv als „Trophäen-Bestände“ nach dem Ende des „Großen Vaterländischen Krieg“ translozierten jüdischen Akten sowie das Schicksal der Bestände des YIVO-Archivs (gegr. 1926). Das Archiv des Holocaust Memorial Museum (geöffnet seit 1993; Sammlungsbeginn seit 1986) in Washington D.C. sammelt Material mit Bezug zu den Opfern, Tätern, Überlebenden und zur Frage der Rechtsprechung. 

Feliks Tych, ehemaliger Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, verdeutlicht den großen Stellenwert des Quellenkorpus von 7.300 Zeugenaussagen, die auf der Grundlage von expliziten Fragebögen für Erwachsene und Kinder im Auftrage der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission von August 1944 bis Dezember 1947 gesammelt wurden. 

Hartmut Heinemann expliziert den Wert der bis in die letzten Kriegstage des Zweiten Weltkriegs von der Firma Gebrüder Gatermann im thüringischen Schloss Rathsfeld am Kyffhäuser mikroverfilmten jüdischen Personenstandsregister, die den Beständen des Gesamtarchivs der deutschen Juden entstammten und vom Reichssippenamt für antisemitische Zwecke genutzt worden waren. 

David Frei gibt einen Überblick über die Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich der rechtlichen Emanzipation britischer Staatsbürger jüdischen Glaubens im allgemeinen und hinsichtlich des britisch-jüdischen Personenstandswesens im besonderen. 

Laura Jockusch berichtet über die Gründung eines Informationsbüros in Odessa durch die russisch-jüdischen Intellektuellen Simon Dubnow (Historiker), den zionistischen Theoretiker Ascher Ginzburg (Achad Haam) und den Dichter Chaim Nachman Bialik als Reaktion auf den Pogrom von Kischinjow in der russischen Provinz Bessarabien im April 1903. Bialik wurde an den Ort des Pogroms gesandt, um Informationen in Krankenhäusern von Schwestern und Ärzten zu erhalten und Fotos zu sammeln. Die Publikation eines Buches Kischinjow verzögerte sich bis nach dem Ersten Weltkrieg, da die Pogrome 1905/06 viel mehr Opfer forderten, aufgrund der russischen Zensur und der finanziellen Situation der Gruppe. 

Uriel Gast erläutert als Hauptzweck der 1995 durch den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund und der ETH Zürich gegründeten Stiftung Jüdische Zeitgeschichte den Aufbau der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte.

Georges Weill, u.a. ehemaliger Inspecteur général des Archives de France, gründete 1962 mit Kollegen die Commission Française des Archives Juives zur Beratung der jüdischen Registraturbildner. Obwohl das Archivgut der Israelitischen Konsistorien vor 1905 in Frankreich und im Elsaß noch heute als staatliches Archivgut angesehen wird, verzögert sich ihre Abgabe bzw. Archivierung aus verschiedenen Gründen: profanes Verwaltungsschriftgut hat keinen religiösen Wert; jüdische Einwanderer haben wenig Interesse daran, die Unterlagen der Altgemeinden zu bewahren; jüdische Funktionäre haben kein großes Interesse an der Archivierung ihrer Unterlagen und an ihrer Öffnung für die Forschung. Eine kleine Zahl von Archivaren hat sich aber in den letzten Jahren zur Aufgabe gemacht, die jüdischen Archivbestände Frankreichs zu retten.

Peter Honigmann stellt in seinem Beitrag seine praktischen Erfahrungen hinsichtlich der Bewertung und Nutzung von Unterlagen unter rechtlichen Aspekten dar, die aufgrund von Depositalverträgen mit den abgebenden Gemeinden bzw. Autoren im Heidelberger Zentralarchiv verwahrt werden. Zum einen besteht die relativ seltene Gefahr, dass der Eigentümer sich entschließt, sein Archivgut wieder zurückzunehmen. Um den Persönlichkeitsschutz zu garantieren, verlangen viele jüdische Gemeinden den Genehmigungsvorbehalt im Depositalvertrag hinsichtlich der Nutzung ihrer Altunterlagen. Da die staatlichen Archivgesetze für öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften keine Gültigkeit haben, da sie keine von Bund oder Land beaufsichtigten Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, im Unterschied zu Kommunen, Universitäten und Berufskammern, stellen die jüdischen Organisationen ihre eigenen Regeln hinsichtlich des Datenschutzes und Durchführung des informationellen Selbstbestimmungsrechtes auf. Bei der Publikation von Findmitteln mit expliziten Namenslisten steht der Archivar vor dem Problem, möglichen Schaden und Nutzen, der bei ihrer Publikation entstehen könnte, abzuwägen. Aufgrund der unterschiedlichen Sperrfristen für personenbezogene Unterlagen in verschiedenen Archivgesetzen und der Frage ihrer Anwendbarkeit im Falle des Zentralarchivs plädiert Honigmann für den Rekurs auf und Anwendung traditioneller jüdischer Rechtsvorschriften, da schon Tora und Talmud die Verbreitung schädigender Informationen verbieten.

Aubrey Pomerance, Leiter des Historischen Archivs des Jüdischen Museums Berlin und der Zweigstelle des Leo Baeck Archiv New York in Berlin, erörtert die Sammlungspolitik und -methodik, Stand der Erschließung, Zugänglichkeit der Bestände für die wissenschaftliche Öffentlichkeit und die Motivation der Stifter, dem Museum persönliche Unterlagen zu überlassen. Die gegenwärtige Herausforderung besteht darin, die Informationen über die gesammelten Objekte digital so zu erschließen, dass sie online recherchierbar sind. 

Frank Mecklenburg, Archivar und Forschungsdirektor am Leo Baeck Institute New York, stellt einige virtuelle Zeitschriftenarchive und Internetportale für jüdische Familienforscher und Genealogen vor mit eigenen Datenbanken, Suchmaschinen hinsichtlich ausgelöschter Gemeinden in Osteuropa, Gräber und Friedhöfe, Familiengeschichten und -stammbäume und Hilfsfunktionen zum Austausch von Informationen der Internetnutzer hinsichtlich der Übersetzung von Texten. Bei dem Portal „JewishGen“ handelt es sich also um ein interaktives Portal.

Friedrich Battenberg, Leiter des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, begründet seine Ansicht, warum bei der sachthematischen Inventarisierung von archivischen Judaica-Betreffen nur zwei Methoden akzeptabel seien: a) die traditionelle Urkundenregesten-Technik, b) der Aufbau eines virtuellen Judaica-Bestandes, der mittels Internet über die Datenbank HADIS öffentlich zugänglich gemacht wird. Schlichte Meta- bzw. Auswahlverzeichnisse würden zukünftig durch die Bereitstellung von elektronischen Findbüchern mit ihren Suchfunktionen obsolet gemacht. 

Albrecht Eckhardt, ehem. Leiter des Staatsarchivs Oldenburg, berichtet über die Durchführung des Projektes „Quellen zur Geschichte und Kultur des Judentums im westlichen Niedersachsen vom 16. Jhdt. bis 1945. Albrecht Eckhardt, Jan Lokers, Matthias Nistal (Leitung). Bearb. v. Heike Düselder und Hans-Peter Klausch. Teile 1-4. Göttingen 2002“. Es wurden die Bestände der drei Staatsarchive Aurich, Oldenburg und Osnabrück nach gleicher Systematik nach jüdischen Betreffen durchgesehen. Von 14.000 Akten wurden 6.000 Akten ausgewählt und intensiv mit Enthält-Vermerken verzeichnet. Der vierte Band enthält einen Gesamtindex für alle drei Bände. 

Gail T. Reimer, Gründungsdirektorin des virtuellen Jewish Women\’s Archive, erläutert den Reichtum des umfassenden Informationspotentials dieses zehn Jahre alten Projektes. U.a. werden Informationen zu 1700 Frauen, 737 archivische Sammlungen in 178 unterschiedlichen Findbüchern, 1.000 Dokumente, die Digitalisierung der Zeitschrift „The American Jewess“ (1895-1899) dem Internet-Nutzer zur Verfügung gestellt. In einem Dokumentationspilotprojekt sammelten hunderte von jüdischen Frauen Material und Informationen über ihre Erfahrungen in ihren Gemeinden und führten Oral History Interviews durch mit 90 Frauen aus drei amerikanischen Großstädten, transkribierten, indexierten und erschlossen sie in lokalen Findbüchern und werden sie im Internet zugänglich machen. Ein neuer Internetauftritt erforscht die wechselseitige Beziehung zwischen der jüdischen Frauengeschichte und der zweiten Welle des amerikanischen Feminismus in den 1960er und 70er Jahren. Persönliche Sammlungen von 74 Aktivisten dokumentieren die vielfältigen Aktivitäten dieser Bewegung. 

Insgesamt geben die Beiträge – ausgehend von rechtlichen, technischen, archivpolitischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen – eine gute internationale Übersicht über die laufenden praktischen Tätigkeiten und Probleme moderner jüdischer Archive oder deutscher Staatsarchive, die Archivgut jüdischer Provenienz verwalten und erschließen. Während das Gesamtarchiv der deutschen Juden als zentrales jüdisches Archiv in Deutschland angesehen wurde, sammeln das CAfHJP in Jerusalem und das Archiv des Holocaust Museum in Washington weltweit Archivgut. 

Info:
Frank M. Bischoff, Peter Honigmann (Hrsg.): Jüdisches Archivwesen. Beiträge zum Kolloquium aus Anlass des 100. Jahrestags der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden zugleich 10. Archivwissenschaftliches Kolloquium der Archivschule Marburg, 13.-15. September 2005. Marburg: Veröffentlichungen der Archivschule Marburg. Institut für Archivwissenschaft Nr. 45, 2007, ISBN 978-3-923833-10-8, 430 S., € 28,60. 

Volker Beckmann, Herford

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