Auch 75 Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten rätseln Historiker noch immer über Hintergründe und Ursachen dieses verhängnisvollen Ereignisses. Meist wird dabei die schwere wirtschaftliche Krise im ganzen damaligen Reich genannt. Auch im Pforzheimer Umfeld war diese Krise zu Beginn der 1930er Jahre deutlich spürbar – einen lebendigen Eindruck davon gibt eine Radioreportage über „Land in Not“ aus dem Jahr 1934. Das 29 Seiten starke Manuskript der Sendung hat Elke Hirschbach-Zentner jüngst bei Archivierungsmaßnahmen in Ötisheim entdeckt; es kann nun im Kreisarchiv des Enzkreises in Pforzheim eingesehen werden.
„Notstandsgebiete in Württemberg“ hieß der Untertitel der Sendereihe, in der ein Jahr nach der Machtübernahme der Nazis auch über die wirtschaftliche Lage im Oberamtsbezirk Maulbronn berichtet wurde. Der damalige Landrat von Maulbronn, Hermann Röger, erklärte dem Reporter des Süddeutschen Rundfunks gleich zu Beginn, die Not der Menschen im Bezirk sei groß und die Hauptursache die hohe Arbeitslosigkeit; betroffen seien vielfach die um Maulbronn besonders stark vertretenen Steinhauer.
Der Maulbronner Steinhauermeister Albert Burrer wies im Interview mit dem Leiter der Sendung, Carl Struve, darauf hin, dass vor dem Ersten Weltkrieg noch 1.000 Arbeiter ihr Brot in den Steinbrüchen verdient hätten; nun, zwanzig Jahre später, seien es kaum mehr eine Handvoll. Man baue nur noch mit künstlichen Baustoffen wie Glas, Eisen, Beton und Pappe; die Kunst der Steinhauer würde kaum mehr benötigt.
Abb.: Mitglieder der lokalen SA und SS erhalten eine Ausbildung als Hilfspolizisten; im Bild der 3. Hilfspolizei-Kurs Mühlacker 1933. So zeigte sich das Nazi-Regime bei seinen Schlägertrupps erkenntlich – viele der örtlichen SA- und SS-Leute waren auch nach 1933 noch arbeitslos und auf zusätzlichen Verdienst angewiesen (Foto: Enzkreis).
Die nächste Station der Reportage war Sternenfels. Zu Wort kamen Bürgermeister Graze und der NSDAP-Stützpunktleiter Böhringer. Sie klagten über die geringe Markungsfläche der Gemeinde, die nur wenigen Bauern eine Existenzgrundlage biete. Die Niederlassung der Mundharmonikafabrik Hohner habe schon drei Jahre zuvor geschlossen, und der Hausier-Handel mit Sand und Körben, den die Sternenfelser traditionell betrieben, werfe auch nichts mehr ab. Wie ein Korbflechter berichtete, saß er zwei Stunden an einem Backkorb, bekam aber gerade mal 30 Pfennig dafür. Das reiche noch nicht einmal „für’s Wasser an d’Supp“ – die Fabriken seien einfach schneller und billiger bei der Korbherstellung.
Auch in den anderen Orten des Bezirks sah es offenbar düster aus: In Knittlingen verwies Bürgermeister Lehner auf die verlassenen, dicht gemachten Mundharmonika-Fabriken. Neunzig Prozent der Knittlinger Arbeiter hatten früher dort ihren Verdienst gefunden. In Ötisheim waren 550 Männer, meist Goldschmiede, arbeitslos. Ähnlich die Situation in Enzberg: Die vielen beschäftigungslosen Arbeiter waren Opfer der Flaute in der nahe gelegenen Pforzheimer Schmuckwarenindustrie, wo Arbeiter aus Württemberg stets zuerst entlassen würden. Rundfunk-Reporter Struve: „Jetzt hat die Goldstadt versagt, das Gold hat getrogen.“ Ein Ötisheimer Kleinbauer berichtete, er habe kaum Brot für das ganze Jahr. Das Mittagessen, das er gerade einnahm, bestand aus Kartoffeln und „gstandener Milch“. Aber, wie der Bauer erklärte, ohne Rahm, den habe er verkaufen müssen, weil er sonst fast gar kein Geld eingenommen hätte.
Die Rundfunkreportage zeigt erstaunlich deutlich, wie schwer die wirtschaftlichen Probleme auf den Menschen im Bezirk Maulbronn Anfang 1934 noch lasteten. Der Arbeitsamtsbezirk Pforzheim, zu dem Maulbronn gehörte, war der einzige im deutschen Südwesten, in dem 1934 die Arbeitslosenzahlen nochmals anstiegen. Von allzu viel Hoffnung auf die neuen Machthaber in Berlin ist in der Reportage erstaunlich wenig zu spüren. So erklärte Landrat Röger, man sei dankbar für das vom „Führer“ ins Leben gerufene Winterhilfswerk. Man habe allen Bedrängten und in Not befindlichen Volksgenossen wertvolle Hilfe leisten können. Aber: „Wir werden danach trachten, der Notstände künftig aus eigener Kraft Herr zu werden.“ Diese alltägliche Not, die Armut und die Verbitterung kommen in den Gesprächen des Reporters mit den Bürgermeistern und den Arbeitslosen ungeschminkt zum Ausdruck.
Ein Grund dafür, dass die Reportage nicht wie eigentlich zu erwarten von Nazi-Propaganda triefte, lag möglicherweise in der Person des Reporters: „Carlchen“ Struve war kein besonderer Freund der Nazis. Aufgrund seiner Weigerung, bei öffentlichen Auftritten in der braunen Parteiuniform zu erscheinen, wurde er schließlich von den Machthabern „kaltgestellt“.
„Das Sendemanuskript ist ein wertvolles Dokument über die Stimmung in der Bevölkerung aus der Zeit der Machtübergabe an Hitler,“ erklärt Dr. Karl Mayer vom Archiv des Enzkreises, das die Archivierungsmaßnahme in Ötisheim betreut. Eine Anfrage beim Südwestrundfunk ergab, dass die Sendung am 15. März 1934 über den Äther gegangen war. Das Original des Sendemanuskripts ist jedoch bei einem Bombenangriff auf Stuttgart verbrannt – deshalb erbat das Stuttgarter Rundfunk-Archiv eine Kopie für seine Bestände.
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Quelle: Enzkreis, Pressemitteilung 63/2008, 4.3.2008