„Man muss die Zukunft im Sinne haben und die Vergangenheit in den Akten\“ – dieses Zitat wird dem berühmten französischen Staatsmann Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754-1838) zugeschrieben: Jetzt gilt es allerdings, den Akten der Vergangenheit eine Zukunft zu geben. Denn gerade in dem Zeitraum als Talleyrand starb, begann die folgenreiche industrielle Fertigung von Papier, das wegen der Entwicklung von Säuren heute vom Zerfall bedroht ist – auch im Stadtarchiv Bielefeld. Und es geht nicht nur um wenige Akten, sondern um Massen einmaligen städtischen Kulturgutes: Nach vorsichtigen Schätzungen des Archivleiters Dr. Jochen Rath dürften in den Archivmagazinen an der Rohrteichstraße mehr als 15 Millionen Blatt betroffen sein. Insgesamt 140 Archivkartons mit 126.000 Blättern des Archivbestandes „Hauptamt“ mit Unikaten zur Bielefelder Stadtgeschichte schickten Amtsleiter Harald Pilzer und Archivleiter Dr. Rath am 16. August 2007 auf die Reise nach Brauweiler (Rhein-Erft-Kreis), wo die Archivalien in einem aufwändigen Verfahren entsäuert werden. Der Bestand Hauptamt umfasst 542 Akten aus dem 19. Jahrhundert, der Kaiserzeit und Weimarer Republik, des Nationalsozialismus´ und der Nachkriegszeit, darunter zentrale Bielefelder Dokumente zu den Themen Kriegswirtschaft, Luftkrieg, Entnazifizierung und Verwaltungsorganisation. In Brauweiler wird im Rahmen einer public private partnership mit der in Fragen der Archivalienerhaltung und -restaurierung erfahrenen Neschen AG das teilweise bereits brüchige Papier entsäuert und verfestigt. Die Bearbeitung wird etwa vier Monate dauern.
Von etwa 1840 bis 1980 in industriellen Verfahren hergestelltes Papier ist vom sogenannten endogenen Papierzerfall bedroht: Die Dokumente und Akten zerfallen allein aufgrund der Anteile an saurer Leimung. Bei der Papierproduktion mit Zellulose von Holz werden nämlich Substanzen wie Alaun und Lignin beigefügt, die später Säuren bilden. Diese zerstören die Molekülstruktur des Papiers, das vergilbt und spröde wird. Der Zerfall kann durch ein aufwändiges Einzelblatt-Verfahren, das inzwischen technisch ausgereift ist, gestoppt werden, um unersetzbares städtisches Kulturgut vor der Vernichtung zu bewahren. Die inzwischen vielseits beschworene Digitalisierung stellt keine langfristige Alternative dar, denn während das Papier weiter vor sich hin altert und zerfällt, durchleben auch die Bilddaten einen Alterungsprozess, und wer kann garantieren, welche Dateiformate in 50 Jahren noch am PC zu öffnen sind? In nordrhein-westfälischen Archiven gelten etwa 60 000 laufende Meter Akten als vom Papierzerfall bedroht, das entspricht über 500 Millionen Blatt mit einzigartigen Informationen zur Landesgeschichte.
Ein von 2007 bis 2010 mit Landeszuschüssen gefördertes und in Westfalen vom LWL-Archivamt in Münster koordiniertes Substanzerhaltungs- und Massenentsäuerungsprojekt wurde im Stadtarchiv Bielefeld Ende 2006 durch die Auswahl geeigneter Bestände aufgenommen, die mit vertretbarem Aufwand vorbereitet werden können und die für die wissenschaftliche Auswertung von besonderer Bedeutung sind: Zunächst soll der Bestand „Hauptamt“ (ca. 15,5 laufende Meter Umfang) bearbeitet werden, 2008 folgen die Akten des Amtes für Wiedergutmachung (13,6), später die des Vertriebenenamts (11,5) und des Erbgesundheitsgerichts (1,5) sowie der kleine NSDAP-Bestand (1). Für den ebenfalls zu entsäuernden Bestand Protokolle (Rat, Magistrat und Ausschüsse ab 1850), der vollständig gebunden ist, wird die technische Weiterentwicklung des Entsäuerungsverfahrens für Buchblöcke abgewartet, die eine Auflösung der Buchbindungen überflüssig macht. Im Dezember 2006 wurden die notwendigen Vorarbeiten für die maschinelle Massenentsäuerung aufgenommen. Drei Mitarbeiter des Stadtarchivs und eine externe Hilfskraft bereiten akribisch die Akten vor, indem diese unter anderem in Einzelblätter aufgelöst, Metallklammern entfernt, die Blätter geglättet und grob gesäubert, aufgeklebte Zeitungsartikel, Telegrammstreifen fixiert und Fotos, überformatige Plakate und geklammerte Faltblätter entnommen und den jeweiligen Sonderbeständen im Archiv zugeführt werden.
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Quelle: Pressemitteilung Stadt Bielefeld, 16.8.2007
Abb.: Amtsleiter Harald Pilzer M.A. (l.) und Institutsleiter Dr. Jochen Rath schickten die ersten Akten aus Bielefeld in die Massenentsäuerung. (Foto: Bernhard Pierel/Westfalen-Blatt, Bielefeld)