Das Reutlinger Stadtarchiv konnte über die Autographenhandlung Stargardt Berlin das Konzept eines 25-seitigen Briefes von Friedrich List (von der Hand seiner Tochter Emilie mit eigenhändigen Zusätzen und Streichungen) an den liberalen Politiker und Herausgeber des „Staatslexikons“ Carl von Rotteck erwerben. In dem Entwurf vom 3. August 1838 – die nicht mehr vorhandene Reinschrift trug offenbar das Datum 16. Oktober – schildert Friedrich List nicht nur seine wichtigsten Lebensstationen inklusive finanzieller Schiffbrüche und Gefängnis-Episoden, sondern legt auch ausführlich seine politischen und ökonomischen Gedanken, die Motive seiner Mitarbeit am „Staatslexikon“ und die Hintergründe seiner Differenzen mit dem anderen Herausgeber Carl Theodor Welcker dar, den er der Dummheit, Gemeinheit und Habsucht bezichtigt. An verschiedenen Stellen kommt List auch auf wichtige biographische Stationen zu sprechen, z. B. auf seine Reformbemühungen in Württemberg und deren Folgen oder auf die Zeit in Leipzig und seinen Einsatz für das sächsische Eisenbahnwesen. Insofern liegt hier ein zentrales und aussagekräftiges Zeugnis für das Leben und Wirken einer der bedeutendsten Persönlichkeiten auf dem Feld der Wirtschaftspolitik, des Verkehrswesens und des Frühliberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Die Handschrift ist sowohl vom Umfang wie vor allem vom Inhalt her eine absolute Rarität, wie sie heutzutage nur noch äußerst selten auf dem Antiquariatsmarkt auftaucht (laut einer früheren Aussage von Stargardt der umfangreichste List-Brief, der bisher im Handel gewesen ist). Für die List-Forschung besonders interessant ist die Tatsache, dass der als Reinkonzept vorliegende Brief diverse noch unbekannte Passagen enthält. Bislang ist nur eine spätere Abschrift aus dem Jahr 1844 bekannt, die auch die Grundlage für den Abdruck in der Listschen Werke-Ausgabe (Band VIII, S. 512–525) bildete und bei der, wie sich nun zeigt, auf Lists Veranlassung eine Reihe von Streichungen bzw. Kürzungen vorgenommen worden sind, weil ihm diese Passagen offenbar nachträglich zu emotional und persönlich erschienen, wie Stadtarchivleiter Dr. Heinz Alfred Gemeinhardt erläutert.
Für das Reutlinger Stadtarchiv, welches im Friedrich-List-Archiv die schriftliche Hinterlassenschaft des bedeutenden Reutlinger Sohnes verwahrt (mehr als 2700 Dokumente), ist der Erwerb dieses Briefes eine ungemein wertvolle Ergänzung, zumal das Antwortschreiben Rottecks auf Lists Brief hier im Original vorliegt. Das Listarchiv, dessen Grundstock der 1889 von der Tochter Emilie der Stadt Reutlingen übergebene Nachlass bildet und das seither durch zahlreiche Erwerbungen und Zuwendungen systematisch ausgebaut wurde, ist die zentrale Dokumentationsstätte zu Leben und Wirken Friedrich Lists und Anlaufstelle für Forscher aus dem In- und Ausland. Das Findbuch (Repertorium) zum Bestand des Listarchivs und die Titel der mittlerweile über 800 Veröffentlichungen umfassenden List-Spezialbibliothek sind inzwischen online recherchierbar. Das Stadtarchiv hat bei der Auktion den Zuschlag für den Erwerb der Handschrift bei 6 500 Euro erhalten; der Gesamtpreis einschließlich Aufgeld und Mehrwertsteuer betrug 8 078 Euro. Ursprünglich wurde die Handschrift als „List-Autograph“ für einen wesentlich höheren Preis, nämlich für 25 000 Euro angeboten, doch konnte das Stadtarchiv dank einer Expertise des Handschriftenexperten Prof. Dr. Volker Schäfer aus Tübingen nachweisen, dass der Brief-Entwurf nicht von List, sondern im wesentlichen von der Hand seiner ihm vielfach als Sekretärin dienenden Tochter Emilie stammt.
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Quelle: Stadtarchiv Reutlingen Aktuell; Ulrike Glage, Reutlinger General-Anzeiger, 1.8.2007