„Wir haben elf, davon zwei aus dem 9. Jahrhundert und eines mit sehr deftigen pharmazeutischen Rezepten gegen die unterschiedlichsten Krankheiten“. – „Unsere Kirchengemeinde hat zwei hebräische, die zusammen ein Blatt eines bisher unbekannten Esther-Kommentars ergeben.“ Die Rede ist von Einbandfragmenten, die durch die vorliegende Publikation wieder in das Bewusstsein der Pfarrer, Pfarrerinnen und Gemeindeglieder gerückt sind. Die Kirchengemeinden – hier im Gespräch Bad Sooden-Allendorf und Neuengronau – sind stolz, Eigentümer solcher Schätze zu sein. In Rengershausen etwa wurde im Silvestergottesdienst, der zum 900-jährigen Ortsjubiläum 2007 übergeleitet hat ein liturgisches Fragment aus dem 12. Jahrhundert präsentiert, „fast so alt wie der Ort selbst“. Das Fragment ist Einband des ältesten Kirchenbuches Rengershausen von 1568.
Abb: Der Einband der Rechnung von 1641 aus Allendorf enthält medizinisch-pharmazeutische Rezepte gegen verschiedene Krankheiten. Die Rezepte wurden im 13./14. Jahrhundert aufgeschrieben. Dieser Text war bisher unbekannt.
Der Katalog bietet Abbildung und Beschreibung jedes einzelnen Fragmentes. Einleitung und Register führen in die ungewöhnlich spannende Materie ein und möchten im Umgang mit diesem einmaligem Kulturgut, das am besten als Depositum im Landeskirchlichen Archiv Kassel lagert, sensibilisieren: Warum wurden mittelalterliche Handschriften im 16. und 17. Jahrhundert zu Einbänden recycelt? Was haben Buchdruck und Reformation damit zu tun? Woher kommen die Handschriften? Welche Rolle spielten die Klöster Fulda und Hersfeld? Was ist ein Missale, was ein Brevier?
Ziel des Projektes ist es, alle mittelalterlichen Handschriften- und Inkunabelfragmente in Pfarrarchiven und anderen Archiven der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck zu erfassen, zeitlich und inhaltlich zu bestimmen und digital abzubilden. Um diese Absicht angemessen umsetzen zu können, konnte der Leiter der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Kassel, Dr. Konrad Wiedemann, im Rahmen einer großzügig gehandhabten Amtshilfe zur Mitarbeit gewonnen werden. Zum anderen war Ralf Gerstheimer bereit, die Fragmente ehrenamtlich zu digitalisieren. Erschließung wie auch Digitalisierung fanden nach Standards der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) statt.
Das Projekt begann im September 2003 mit einer Umfrage des Landeskirchlichen Archivs Kassel in allen Kirchengemeinden und anderen kirchlichen Einrichtungen, ob sie im Besitz mittelalterlicher Einbandfragmente sind. Die Auswertung von 735 verschickten Fragebögen ergab, dass in 35 Pfarrarchiven derartige Fragmente vorhanden sein mussten. Inzwischen liegen 178 Fragmente aus 55 kirchlichen Archiven vor. Sie bilden die Basis für vorliegende Publikation. Bekannt ist auch die Existenz von über 300 weiteren Fragmenten kirchlicher Provenienz, die seit knapp 100 Jahren als Deposita im Staatsarchiv Marburg liegen und in einem nächsten Schritt erschlossen und digitalisiert werden. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche weitere Fragmente in den Pfarrarchiven vor Ort darauf warten, aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und an das Licht der Öffentlichkeit geholt zu werden. Am Ende des Projekts wird eine Datenbank mit allen Fragmenten verfügbar sein.
Info:
Konrad Wiedemann, Bettina Wischhöfer:
Einbandfragmente in kirchlichen Archiven aus Kurhessen-Waldeck (Schriften und Medien des Landeskirchlichen Archivs Kassel 21),
Kassel 2007, ISBN 978-3-939017-02-7, 195 Seiten, 24,90 €.
Zu beziehen über das Landeskirchliche Archiv Kassel, E-Mail: archiv@ekkw.de.
Abb.: Der Einband der [Gottes]kastenrechnung von 1592 aus Hersfeld enthält Texte eines Missale. Der liturgische Text wurde um 1400 aufgeschrieben und mit bewohnten Knospen-Fleuronné-Initialen (Fabelfiguren) und Cadellen mit Drolerien verziert.