Wer im 23. Jahrhundert unsere Gegenwart beschreiben will, wird ohne einen Zugang zu den heutigen Online-Medien nicht auskommen. Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat sich deshalb entschlossen, eine Auswahl von historisch wertvollen Websites des Landes in seine Bestände zu übernehmen. „Wir wollen“ so Robert Kretzschmar, Präsident des Landesarchivs, „mit diesem Pilotprojekt unseren Auftrag „Gedächtnis der Landesgeschichte“ zu sein, auch in der digitalen Welt erfüllen“. Die archivierten Websites stehen allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung.
Vor etwa fünfzehn Jahren zeigten die ersten öffentlichen Einrichtungen Baden-Württembergs im Internet Präsenz. Heute kommen Websites überall im Leben vor, und sie erfüllen Aufgaben, die über die Funktion von Hochglanzbroschüren weit hinausreichen. In Großbritannien wird bereits die Hälfte aller Verwaltungsakte online abgewickelt – die Homepage einer Behörde wird zur zentralen Kommunikationsplattform. Viele Institutionen haben ihren Webauftritt inzwischen schon drei- oder viermal erneuert, ohne die Inhalte der Vorgängerversion zu sichern. Wenn ein Minister im Fernsehen auftritt, werden die Bilder von den Archiven der Rundfunkanstalten aufbewahrt, für die Homepage des Ministeriums fühlte sich aber bisher niemand zuständig.
Die derzeit einzige Quelle für historische Ansichten der aktuellen Websites ist eine gemeinnützige Einrichtung in San Francisco namens Archive.org, die aber keinen zuverlässigen Zugang bietet und auf Angaben über die Herkunft und die Zuordnung der Website verzichtet. Um eine Alternative vor Ort zu schaffen, hat das Landesarchiv gemeinsam mit dem Bibliotheks-Service-Zentrum (BSZ) in Konstanz und den beiden Landesbibliotheken in Karlsruhe und Stuttgart das „Baden-Württembergische Online-Archiv“ (BOA) entwickelt. Während die Bibliotheken mit BOA vor allem ihrem Sammlungsauftrag für Online-Literatur zur Landeskunde nachkommen, widmet sich das Landesarchiv den Websites der öffentlichen Einrichtungen des Landes. Die bisherige Auswahl umfasst die wichtigsten Ministerien und Landesbehörden sowie Einrichtungen, an denen das Land gemeinsam mit anderen Trägern beteiligt ist. Auch thematisch orientierte Portale wurden aufgenommen, „weil sie zeigen, wie Politik und Verwaltung ihr Handeln heute an konkreten Lebenssituationen ausrichten“, so Kai Naumann, der im Landesarchiv das Projekt BOA bearbeitet.
Das von Informatikern des BSZ entwickelte BOA basiert auf dem Prinzip des Offline-Browsers: eine zu archivierende URL kann ohne das Zutun des Webmasters vom Archivar heruntergeladen und auf Dauer konserviert werden. Die meisten Sites werden alle drei Monate archiviert, besonders wichtige auch öfter. Bestimmte Ereignisse vor Ort oder auf Landesebene können als Anlass für eine außerplanmäßige Archivierung dienen. Die „eingefrorenen“ Websites bleiben im Internet unter einer neuen Adresse frei verfügbar und können nach Schlagwörtern und Titeln durchsucht werden.
Das System hat noch einige Handicaps. Nicht jeder Browser ist für BOA geeignet. Bestimmte Links führen ins Leere, andere bieten nicht mehr die im Echtbetrieb gewohnten Funktionen. Das Archivieren des Web gilt weltweit als ungelöstes Problem, denn hinter den Kulissen einer Website steckt eine Vielzahl von Programmiersprachen und Dateiformaten. Bisher können diese Mechanismen nur in vereinfachter Form erhalten werden. Im kommenden Jahr will das Landesarchiv die Archivierungstechnik verfeinern und das Angebot der archivierten Websites vergrößern. Erste Anfragen von Behörden, die eine Aufnahme ihrer Website in das BOA-Archiv anstreben, sind bereits eingegangen.
Langfristig sollen die Web-Inhalte gemeinsam mit den übrigen im Landesarchiv vorhandenen Materialien strukturiert und online recherchierbar sein, um den Benutzern eine alle Medien umspannende Auskunft liefern zu können. Schon heute stehen mehrere tausend Findmittel zu hochkarätigen archivalischen Beständen im Internet bereit.
Das Landesarchiv kämpft auch an anderen Fronten erfolgreich gegen den digitalen Gedächtnisverlust. Die öffentliche Verwaltung produziert statistische Daten, digitalisiert Karten und Pläne und überführt wichtige Unterlagen wie Grundstückskataster oder Firmenregister in eine vollständig elektronische Form. Andere Länder und der Bund haben bereits ganze Behörden auf digitale Aktenführung umgestellt. Um eine hochwertige Auswahl dieser Daten für die Nachwelt zu sichern, wurde im Sommer 2006 am Staatsarchiv Ludwigsburg ein Langzeitspeicher entwickelt, der bisher 25 Millionen Datensätze und über zehntausend digitale Bilder enthält. Die Archivierung elektronischer Unterlagen ist eine technische Herausforderung, zumal die IT-Fachwelt bei dem Begriff „Langzeitarchivierung“ nur an Zeiträume von fünf bis zehn Jahren denkt. Das Landesarchiv muss eine Erhaltung „auf Dauer“ garantieren können. Seine ältesten Pergamenturkunden sind nach 1.200 Jahren noch lesbar und verständlich – ein Maßstab, der auch für das digitale Kulturerbe zu erfüllen ist.
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Quelle: Pressemitteilung Landesarchiv Baden-Württemberg, 2.3.2007