Welche Lieder waren Anfang des 20. Jahrhunderts in Westfalen beliebt? Wie lief ein westfälisches Schützenfest oder eine Hochzeit in den 1950er Jahren ab? In schriftlicher Form liegt über derartige Themen einiges vor, Original-Tonaufnahmen (O-Töne) von Zeitzeugen und damit Informationen aus erster Hand zu diesen und anderen kulturellen Erscheinungen sind jedoch spärlich gesät und deshalb besonders wertvoll. Die vom Verfall bedrohten Tondokumente des Archivs für westfälische Volkskunde des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe werden in den kommenden zwei Jahren vom Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Münster digitalisiert und damit für die Nachwelt gerettet.
Auf 270 Magnettonbändern und 425 Audiokassetten haben Wissenschaftler seit den 1950er Jahren Alltägliches und Festtägliches aus Westfalen dokumentiert. Zu diesen authentischen Aufnahmen aus der ethnologischen Feldforschung zählen unter anderem Volksliedgesänge mit entsprechenden Erklärungen, Erzählungen, Interviews über Bräuche und ehemalige Arbeitsverfahren sowie Lebenserinnerungen. Die Liedaufzeichnungen enthalten das Repertoire einzelner Volksliedsänger sowie Liedsammlungen aus verschiedenen Orten und Lieder bestimmter Singgemeinschaften. Dazu zählen auch Lambertus-Lieder aus Münster, die rund um das Lambertusfest am 17. September von Kindern auf den Straßen und Plätzen gesungen wurden und teilweise heute noch werden.
Die Nutzung und wissenschaftliche Auswertung solcher wertvollen Quellen ist seit mehreren Jahren nahezu unmöglich: Funktionierende Abspielgeräte für die verschiedenen Bandformate sind kaum noch verfügbar, und die Qualität insbesondere der Magnettonbänder verschlechtert sich aufgrund der zeitbedingten chemischen Zersetzungsprozesse zusehends. Angesichts der veralteten Karteikartendokumentation, die sich auf die Zählerstände der nicht mehr vorhandenen Aufnahmegeräte stützt, gestaltet sich eine gezielte inhaltliche Suche darüber hinaus als schwierig.
Um die gefährdeten Tondokumente vor dem endgültigen Verstummen zu retten und den gezielten Zugriff auf die Inhalte zu erleichtern, werden sie jetzt professionell digitalisiert und neu erschlossen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Projekt mit dem Titel \“Digitale Erfassung, Erschließung und Langzeitarchivierung von Beständen des Archivs für westfälische Volkskunde der Volkskundlichen Kommission für Westfalen\“. Die Durchführung liegt in den Händen des Seminars für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Münster unter Leitung von Prof. Dr. Ruth-E. Mohrmann und der LWL-Kommission unter Leitung von Christiane Cantauw.
Parallel zur Erfassung des Tonarchivs ist als zweite Säule des Projekts die Digitalisierung und Neuerschließung des schriftlichen Volksliedarchivs mit seinen mehr als 9.000 Liederblättern geplant. Bereits während des Ersten Weltkriegs legte Karl Wagenfeld, Gründer und Geschäftsführer des Westfälischen Heimatbundes, den Grundstock für das Archiv. Die Sammlung, die durch 100 handschriftliche Liederbücher aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zahlreiche gedruckte Gebrauchsliederbücher ergänzt wird, ist unter anderem durch gemeinsame Gewährspersonen und transkribierte Audioaufnahmen eng mit dem Tonarchiv verflochten. So findet man viele Lieder sowohl in schriftlicher als auch akustischer Form.
Spätestens wenn beide Archivteile in digitaler Form vorliegen und die zugehörigen Metadaten, wie etwa Liedtitel, Aufnahmeort und Datum in eine Datenbank eingetragen worden sind, werden sie auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: Geplant ist ein Internet-Auftritt, der die Möglichkeit bietet, online nach Liedern und anderen Tonaufnahmen sowie schriftlichem Liedgut aus Westfalen zu recherchieren und sich Inhalte kostenfrei auf den eigenen Rechner zu laden. Dann wird auch das typische Lambertuslied aus Münster \“O Buer, wat kost\‘ dein Hai…\“ endgültig für künftige Generationen gesichert sein.
Link: Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie: www.uni-muenster.de/Volkskunde
Kontakt:
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Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie
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