Der Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. am 27. Januar war für die meisten seiner Untertanen ganz selbstverständlich der höchste Feiertag im Jahr, der mit großem Aufwand begangen wurde und folglich auch in Form von vielen Augenzeugenberichten festgehalten wurde, von denen sich einige im volkskundlichen Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) finden. Die Idee, den Geburtstag eines Oberhauptes zu zelebrieren, war nicht neu. In Teilen Deutschlands war diese Tradition schon vor Gründung des Kaiserreiches 1871 etabliert, indem in den deutschen Einzelstaaten die Geburtstage der herrschenden Fürsten gefeiert wurden. „Die Kaisergeburtstage unter Wilhelm I. und später besonders auch unter Wilhelm II. waren mit diesen Festlichkeiten in keinster Weise zu vergleichen, da sie auf nationaler Ebene stattfanden und somit ganz andere Dimensionen und Möglichkeiten der Selbstinszenierung mit sich brachten“, betont Laura Bröker, die sich im Rahmen ihres Praktikums bei der Volkskundlichen Kommission für Westfalen näher mit den Kaisergeburtstagsfeiern auseinandergesetzt hat.
Die Feiern lenkten die Aufmerksamkeit der benachbarten Staaten auf das Kaiserreich und stellten gleichzeitig dessen Einheit und Geschlossenheit zur Schau. Das versuchten die Organisatoren beispielsweise mit penibel genau geplanten Parademärschen oder großzügig ausstaffierten Musikzügen mit Fackeln zu erreichen. Meist befand sich die gesamte Bevölkerung auf den Beinen, um den besonderen Ehrentag zu begehen und somit die nationale Gesinnung zu demonstrieren. Es wurden Festreden gehalten, Hymnen und Lobpreisungen angestimmt und Geschichtsvorträge gehalten, die von des Kaisers vorbildlichem Leben und seinen Heldentaten berichteten und ihren Teil dazu beitrugen, die Person des Kaisers weiter zu verherrlichen. Nachdem für das Wohl des Kaisers gebetet worden war, machte man sich meist auf den Weg in ein Kaffee- oder Wirtshaus, um dort mit Familie, Freunden und Bekannten weiterzufeiern.
Wie in den Schulen von Ladbergen (Kreis Steinfurt), Gütersloh oder Lünen (Kreis Unna), von wo im LWL-Archiv für westfälische Volkskunde interessante Berichte vorliegen, so war auch in anderen deutschen Schulen der Kaisergeburtstag ein ganz besonderer Tag, der für die Kinder eine willkommene Abwechslung mit sich brachte. So wurden schon Tage vorher die Klassen mit Tannengrün, Efeu und Stechpalmen geschmückt und die Bilder der kaiserlichen Familie, die ohnehin in jedem Klassenraum zu finden waren, mit Moos umkränzt. Diese Ehrenkränze durfte nicht jeder herstellen: In manchen Schulen wurden eigens die besten Schüler ausgesucht, um diese wichtige Aufgabe zu übernehmen. Die Feiern in der Aula fanden am Kaisergeburtstag selbst statt. Sie waren gesetzlich vorgeschrieben und beinhalteten sowohl Ansprachen und Lobreden der Lehrpersonen als auch das Singen von Liedern, die zumeist religiösen, militärischen oder kaiserverherrlichenden Inhalts waren: „Der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnet in Berlin, und wär das nicht so weit von hier, so ging ich heut’ noch hin. Und was ich bei dem Kaiser wollt’? Ich reicht’ ihm meine Hand und gäb die schönsten Blumen ihm, die ich im Garten fand.“
Solche Lieder mussten die Kindern, genau wie detaillierte Angaben zum Werdegang des Kaisers und seiner Familie, von klein auf lernen, um sie jedes Jahr am 27. Januar gemeinsam zum Besten zu geben, bevor die Schüler nach dieser Prozedur schulfrei bekamen. „Die schulische Ausbildung, die ohnehin einer Erziehung zum Untertanengeist und Patriotismus diente und dazu benutzt wurde, das sozialistische Gedankengut, eine zunehmende Bedrohung für das monarchische Kaiserreich, von vornherein aus den Köpfen des Nachwuchses zu verbannen, fand im Kaisergeburtstag ihren Höhepunkt. Durch das Schmücken der Kaiserbilder, das Singen von nationalen Liedern, sowie das Vortragen von kaiserlichen Heldengeschichten wurde für die Kinder eine künstliche Nähe zum kaiserlichen Hof erschaffen, die so niemals existierte“, erklärt Laura Bröker. Hinter dem Kaisergeburtstag stecke viel mehr, als man auf den ersten Blick vermute. Der 27. Januar sei nicht nur ein gewöhnlicher Feiertag, sondern ein perfekt inszeniertes und einstudiertes Großereignis gewesen, dass sowohl darauf abzielte, die nationale Gesinnung zu verschärfen und die Persönlichkeit des Kaisers zu glorifizieren, als auch anderen Staaten zu imponieren und diese dadurch einzuschüchtern, resümiert Laura Bröker.
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Quelle: Pressemitteilung LWL, 25.1.2007; Paderzeitung, 26.1.2007